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Room for Rant (Modern Edition)
von Tobias Henke
29.08.2011

Wenn ihr nicht zufälligerweise unter einem Stein lebt, habt ihr die große Nachricht vor gut zwei Wochen wohl mitbekommen. Wenn ihr in einem Häuschen wohnt, dann wart ihr vermutlich sogar ganz aus dem Häuschen.

Nicht nur wurde ein neues Format nun endgültig zur Welt gebracht (der Community-Cup zeigte zuvor ein paar undeutliche Ultraschallbilder), es wurde außerdem angekündigt, dass man den Nachwuchs bereits drei Wochen später zum ersten Mal ins Rennen schicken werde, im Constructedteil der Pro Tour Philadelphia. Das Kind muss also schnell laufen lernen.


Das hat, ebenso wie Modern an und für sich, einige Vorteile und einige Nachteile. Insgesamt fielen die Reaktionen extrem positiv aus; eine Welle der Begeisterung flutete durchs Netz und gegenwärtig wartet man überall gespannt auf die Ergebnisse aus Philadelphia. In diesem Artikel möchte ich mich jedoch vor allem auf die Nachteile konzentrieren.


Kurzfristig

Ist es zu kurzfristig, drei Wochen vor einer Pro Tour ihr Format zu ändern? Ich würde sagen: Im Prinzip ja – aber man kann wohl Ausnahmen machen.

Bedingt durch die vielen Turniere in ständig wechselnden Formaten bereiten sich die wenigsten Pros heutzutage länger als ein paar Wochen auf eine Pro Tour vor. Die großen Teams treffen sich eher zu kurzen, intensiven Testsessions, als über einen langen Zeitraum peu à peu an ihrer Deckwahl zu feilen. Vor den US-Nationals wird sich beispielsweise kaum ein qualifizierter Amerikaner nennenswert Gedanken über Philadelphia gemacht haben, vor der DM kaum ein Deutscher. Nichtsdestotrotz kann man keineswegs ausschließen, dass irgendjemand beachtliche Arbeit ins ursprünglich vorgesehene Extendedformat gesteckt hat und jetzt völlig zu Recht verärgert über die Änderung ist. Die einmal festgesetzten Bedingungen so knapp vor dem Turnier komplett über den Haufen zu werfen, steht im Widerspruch zum Anspruch eines professionellen Wettkampfs.


In diesem speziellen Fall sprach zugegebenermaßen einiges dafür. Extended ist in seiner gegenwärtigen Inkarnation schlicht das unbeliebteste Format, das es gibt. Nach allgemeinem Dafürhalten wäre Pro Tour Philadelphia zudem in einem Ausmaß von Caw-Blade dominiert worden, das selbst erklärten Fans des Archetyps zu weit geht. Modern hingegen hat in letzter Zeit eine beeindruckende Anhängerschaft gesammelt und die Bewegung verlangte nach offizieller Anerkennung.

Das alles sind überwältigende mildernde Umstände für einen Vorgang, der unter anderen Umständen nichts weniger als ein ausgewachsener Skandal wäre. Wer nichts um Prinzipien gibt, sieht die Entscheidung womöglich durchweg positiv, doch hiermit wurde ein Präzedenzfall geschaffen, der über die historischen Beispiele von „emergency bannings“ (aus dem vorigen Jahrtausend) noch hinausgeht. Drei Wochen vor einer Pro Tour ihr Format zu ändern, mag man Wizards diesmal durchgehen lassen, man mag es sogar begrüßen – aber man sollte vielleicht anmerken, dass das eigentlich unerhört knapp ist.


Mittelfristig

Auf den ersten Blick sieht jedes neue Format immer unglaublich spannend aus. Es gibt so viel auszuprobieren, so viel zu erforschen. Die Möglichkeiten scheinen schier unbegrenzt. Bevor ein „Normalsterblicher“ jemals dazu kommt, Modern bei einem Grand Prix oder vielleicht einem PTQ zu spielen, werden allerdings erst einmal zwei Drittel einer Pro Tour und ein Drittel einer Weltmeisterschaft in diesem Format ausgetragen. Wie viel unentdecktes Terrain wird danach wohl noch übrig sein?


Man sollte die anfängliche Euphorie nicht überbewerten. Modern bietet allein durch seine Größe einen immensen Spielraum, doch auch dieser ist nicht unerschöpflich. Auf der Suche nach dem Optimum ist der Unterschied zwischen einem großen und einem kleinen Format weniger die Anzahl der spielbaren Strategien als die Vielzahl der unspielbaren. Insofern hat Modern zwar längst nicht dasselbe Potenzial zur Stagnation wie Standard, mit etwas Glück wird die unüberschaubare Vielfalt aber bereits nächste Woche der Vergangenheit angehören.

Zoo ist zum Beispiel so ein Deck, was das Zeug dazu hat, jede andere Beatdownstrategie zu marginalisieren. Was auch immer Monorot kann, Zoo kann es besser. Und frei nach Gavin Verhey: Tempered Steel ist eine Karte, die allen eigenen Kreaturen +2/+2 gibt; Zoo ist ein Archetyp, der allen eigenen Kreaturen +2/+2 gibt.


Der finanzielle Aspekt

Wo gerade von Zoo die Rede ist: Wie es sich für jedes anständige Eternalformat gehört, gibt es auch im Modern schon unverschämt teure Decks. Ob die Option, alle Karten des Formats nachzudrucken, hier wirklich der versprochene Segen ist, bleibt indes abzuwarten. Möglicherweise ist es vielmehr die Notwendigkeit, gefragte „tournament staples“ neu aufzulegen, die sich als Fluch für künftige Sets erweist. Schließlich hieße das, bereits eingestandene Fehler der Vergangenheit absichtlich zu wiederholen. Tarmogoyf beispielsweise könnte man in irgendwelche Sonderveröffentlichungen stecken, aber kaum in ein reguläres Set. Derweil kursieren Gerüchte, denen zufolge uns im übernächsten Block eine Rückkehr nach Ravnica bevorsteht. Da erwartet uns dann wohl ein Wiedersehen mit Hallowed Fountain & Co. …?


Falls Modern tatsächlich neben Limited und Standard als dritte Kraft im PTQ-System etabliert wird, hat das übrigens weitere Implikationen. Bisher war es gängige Praxis, dass Turnierspieler ihre Karten mit mehr oder weniger viel Verlust weiterverkauften, wenn sie aus Standard oder spätestens wenn sie aus Extended herausrotierten. In Zukunft wird man sich zweimal überlegen müssen, welche Karten man abstoßen kann und welche man gezwungen ist zu behalten. Zwar lässt sich hier einwenden, dass sowieso niemand zu irgendeinem Zeitpunkt mehr als 75 Karten braucht, unterm Strich wird das Hobby Magic aber wieder einmal teurer.


Langfristig

Auf lange Sicht hat jede nichtrotierende Constructedumgebung ein paar Eigenschaften, bei denen man geteilter Meinung sein darf, ob sie nun positiv oder negativ sind.

1) Zunächst steigt der Powerlevel automatisch immer weiter an. Je größer ein Environment, desto kaputter das Metagame. Selbst harmlos anmutende Karten werden in Kombination mit anderen zu Bausteinen der Brokenness. Necrotic Ooze sieht auf den ersten Blick so unschuldig aus, gab jedoch den Ausschlag dafür, dass Survival of the Fittest im Legacy gebannt werden musste (nachdem Vengevine nicht gereicht hatte). Hive Mind machte Pact of the Titan spielbar. Und so weiter und so fort.

2) Irgendwann ist allerdings eine Sättigung erreicht, freilich in manchen Archetypen früher als in anderen. Stagnation droht und es gibt quasi nur zwei Möglichkeiten, neuen Schwung ins Format zu bringen. Entweder durch Bannings oder durch Powercreep. Zoodecks im Legacy enthielten bereits all die stärksten Kreaturen und Burnspells, die es gab – also druckte man mit Wild Nacatl und Knight of the Reliquary schlicht noch stärkere Kreaturen. Die Stormdecks zur Zeit von Grand Prix Madrid schickten sich an, das gesamte Kombospektrum zu vereinnahmen – die logische Folge war das Verbot von Mystical Tutor. Und zur Not druckt man halt eine neue Force of Will, die doppelt so viele Leben, aber bloß halb so viele Karten kostet. So einfach ist das.


3) Es wird unübersichtlich. Mit großer Vielfalt kommt große Unvorhersehbarkeit. Effektives Metagaming leidet und vor allem Kontrolldecks werden an den Rand der Spielbarkeit gedrängt. Antworten sowohl für explosiven als auch für beständigeren Beatdown bereitzuhalten, ist bereits ein Balanceakt. Irgendein klar definiertes Kombodeck und eine Aggrokontrollstrategie kann man vielleicht auch noch abdecken. Aber spätestens wenn mehrere völlig verschiedene Kombos nach völlig verschiedenen Antworten verlangen und man sich zudem mit einem Rampdeck herumschlagen muss, stößt Kontrolle an ihre Grenzen. Echte Kontrolle ist schon jetzt eine lachhafte Idee im Modern. Das Beste worauf man hoffen kann, ist Aggrokontrolle oder ein Deck, das erst so ein bisschen herumkontrolliert und sich alsbald per Gifts Ungiven selber mal eine Kombo sucht.

4) Zwischen Glaskanonen und Achillesfersen regiert der Hate und die Randomness. Die Produktion solch überstarker Colorhoser wie Perish, Chill, Choke oder Karma haben Wizards vor Jahren eingestellt, weil sie eine Partie darauf reduzierten, wer die richtigen Sideboardkarten eingepackt hatte und wer das Glück hatte, seine (zuerst/rechtzeitig) zu ziehen. Das unvermeidliche Wettrüsten im Modern bedingt nun aber hochgezüchtete Decks, die auf den verfügbaren Hate mindestens ebenso empfindlich reagieren wie Monogrün auf Perish oder Monorot auf Chill. Manche Decks besiegt man mit Trinisphere oder Thorn of Amethyst, andere mit Blood Moon oder Magus of the Moon, mit Hurkyl's Recall oder Creeping Corrosion. Wieder andere mit Gaddock Teeg, Ethersworn Canonist, Rule of Law oder Tormod's Crypt. Von Leyline of Sanctity über Leyline of the Void bis Chalice of the Void gibt es eine riesige Auswahl an Karten, die je nach Gegner zwischen Störfaktor und Todesurteil schwanken. Hoffentlich hat man genau diejenigen in sein Sideboard gesteckt, die zu den Decks passen, denen man im Turnier begegnet. Wenn man im Kampf um Hate und Anti-Hate ein ausreichend glückliches Händchen beweist, ist die eigentliche Deckwahl zweitrangig. Natürlich auch eine Methode, die Vielfalt spielbarer Decks hochzuhalten.

Zum Abschluss ein kurzes versöhnliches Video:



Ignoriert, dass mein Gegner und ich es hier beide je einmal katastrophal verzockt haben! Interessant ist, dass erst Emrakul-Hardcast Nummer 3 das Spiel entscheidet (was man leider nicht sieht, weil der Gegner zu früh aufgegeben hat). Offensichtlich kann man ein Format, in dem derartige Dinge passieren, unmöglich schlecht finden.

Aber ganz haarlos ist die Suppe eben nicht; man findet immer noch „room for rant“.




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