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Für die Revolution
von Tobias Henke
05.07.2010

Kommenden Sonntag ist es so weit. Der Jahrestag der Großen Revolution. Genau ein Jahr zuvor, am 11. Juli 2009, traten die M10-Regeln in Kraft und warfen schossen quasi über Nacht ein Jahrzehnt Spielkultur und auch Kartendesign über den Haufen. Freilich hatten Inoffizielle Mitarbeiter vom Ministry of Truth schon lange vorher begonnen, den letztlich gewaltsamen Umsturz vorzubereiten.

Unterdessen sind die Barrikaden verschwunden und die Brände gelöscht. Aus dem Klassenkampf der Systeme ist ein eindeutiger Sieger hervorgegangen. Nicht nur eine hervorragende Gelegenheit, einmal nüchtern eine ernüchternde Bilanz zu ziehen, sondern vielleicht die allerletzte Chance überhaupt, ein paar Dinge klarzustellen, bevor sie sich für alle Zeiten falsch ins kollektive Gedächtnis einprägen.

Geschichte wird von Siegern geschrieben

Mittlerweile hat sich längst überall die Meinung durchgesetzt, dass die Umstellung von Damage on the Stack zu Damage ohne Stack so schlimm ja nun echt nicht gewesen sei. Zunächst einmal ist das die völlig falsche Fragestellung. Zum einen konnten Wizards eben dafür sorgen, dass die Umstellung nicht unangenehm auffällt. Hätten sie reihenweise irgendwelche Sakura-Tribe Elder gedruckt oder hätten sie Mogg Fanatic nicht extra abgeschafft, sähe die Sache sicher anders aus. Kein Wunder auch, dass Putrid Leech und Qasali Pridemage sich weiterhin größter Beliebtheit erfreuen. Habt ihr einmal Thopter Foundry vor der Revolution im Esper-Draftdeck ausgespielt? Diese Karten waren absichtlich viel zu stark designt und wurden erst durch die Beschneidung ihrer Funktionalität gesundgestutzt!


Zum anderen ist es absurd, eine negative Einschätzung zu relativieren („nicht so schlimm“), wenn bereits alles, was nicht ausnahmslos positiv ist, ein vernichtendes Urteil darstellt.

Trotzdem bin ich gewillt einzuräumen, dass die Änderung für Magic als Ganzes eine gute Idee gewesen sein könnte und vermutlich war. Nicht alles, was neue Spieler bringt, ist automatisch gut, und ob speziell diese Veränderung überhaupt dafür verantwortlich zeichnet, gehört prinzipiell erst mal auf den Prüfstand. Aber in diesem Fall bleibt bei der Kosten-Nutzen-Rechnung wahrscheinlich ein Plus. Denke ich.

Was jedoch absolut nicht in Ordnung geht, ist, so zu tun, als ob kein Preis gezahlt, keine Opfer gebracht worden wären. Natürlich ist etwas auf der Strecke geblieben! Erst neulich habe ich es wieder gehört: das Beispiel Nummer 1, das seit der allerersten Stunde, seit Anbeginn der Debatte die Runde machte. Im zweiten Zug kontrolliert ein Spieler Sakura-Tribe Elder und sein Gegner Savannah Lions. Bestimmt erinnert ihr euch. Nach altem Regelwerk werden die angreifenden Löwen immer geblockt, immer wird der Schaden auf den Stapel gelegt und der Elder wird danach immer geopfert, um ein Land zu suchen. Gar keine Entscheidung involviert, während man sich nach M10-Regeln zwischen zwei Alternativen entscheiden muss. Entweder man bekommt das Land oder man tötet die Löwen.

Kampf der (Kampf-) Systeme


Mehr Strategie durch Wegfall des Schadenstapelns? So scheint es zumindest. Das Perfide an diesem Szenario ist, dass es nicht ausreicht, die Grundannahme infrage zu stellen. Dass die Löwen nach altem System angreifen, ist zwar höchst zweifelhaft, das zu korrigieren, ändert aber nichts. Rein quantitativ liegt der Vorteil immer beim neuen System:


Dem Entscheidungsbaum ist tatsächlich ein zusätzlicher Ast gewachsen. Interessant ist aber vor allem eine qualitative Analyse. Welche Entscheidungen sind einerseits anspruchsvoll und andererseits besonders relevant für den Fort- und Ausgang der Partie?

Dass Sakura-Tribe Elder blockt, wenn er denn die Chance erhält, gehört zum Beispiel eindeutig nicht dazu. Unabhängig davon, welche Regeln gelten, wird er in den allermeisten Fällen blocken, ohne mit der Wimper dem ledrigen Augenlid zu zucken. Nach altem Regelwerk müsste man sich höchstens fragen, warum Savannah Lions sehenden Auges in ihr Verderben laufen, und das macht den Entschluss vielleicht ein ganz kleines bisschen schwieriger.

Das führt uns zum Angriff selbst. Vor der Revolution hatte der weiße Magier hier wirklich keine komplizierte Entscheidung zu fällen. Möglicherweise wollte er Blade of the Sixth Pride nachlegen, hatte sowieso keine Option im Deck, jemals sinnvoll am Elder vorbeizukommen, und wollte den unvorteilhaften Tausch deshalb einfach nur hinter sich bringen, doch normalerweise war angreifen eine saublöde Idee. Nach der Revolution ist die Attacke zwar eine echte Alternative, aber ehrlich – sie ändert rein gar nichts. Das wird spätestens im nächsten Absatz ersichtlich.

Die einzige Frage, die sowohl anspruchsvoll als auch relevant ist, stellt sich nämlich bei der Wahl zwischen Land und Landverzicht. Sie taucht auf der rechten Seite zweimal auf; dennoch handelt es sich weiterhin bloß um eine Entscheidung! Um es deutlich zu machen: Die kann der grüne Magier sogar völlig unabhängig von seinem Gegenspieler treffen. Will er Sakura-Tribe Elder gegen Savannah Lions ab- oder für ein Land eintauschen? Im ersten Fall wird er blocken, wenn er darf, und (auch am Ende des Zuges) kein Land suchen. Im zweiten Fall wird er blocken, wenn er darf, und (spätestens am Ende des Zuges) ein Land suchen. Ob die Löwen angreifen, nicht angreifen, in der Nase bohren oder sich auf den Kopf stellen, ist absolut irrelevant. Entweder die Löwen teilen keinen Schaden aus und der grüne Magier erhält ein Land. Dafür ist ein Angriff offensichtlich unerheblich. Oder Löwen und Elder töten sich gegenseitig. Auch dafür ist ein Angriff keineswegs erforderlich. Wenn auf beiden Seiten des Schlachtfelds je eine Kreatur untätig herumliegt, wurde effektiv genauso abgetauscht.

An dieser Stelle kann von einem Zuwachs an Strategie schon nicht mehr gesprochen werden. Der wahre Clou kommt aber noch! Warum befindet sich Sakura-Tribe Elder überhaupt im Deck? Früher hätte man darauf wohl geantwortet: Zur Manabeschleunigung – ach ja, und weil er zusätzlich noch mit Savannah Lions traden kann. Dass er das aber nun einmal nicht mehr kann, schlägt sich auch im Deckbau nieder. Ganz auszuschließen ist es freilich nicht, dass man flooded ist und sich für den Abtausch entscheidet, aber als stupide Kampfmaschine ohne weitere Kenntnisse lässt der Elder doch einiges zu wünschen übrig. Wenn er bloß noch Schaden verhindern und Mana beschleunigen kann, dann ist das genau der Grund, warum er sich im Deck befindet, und dann ist das genau das, was er in einer überwältigenden Mehrheit der Fälle tun wird. So schwer fällt die Entscheidung nach M10-Regeln nicht.

Wieso jedoch sollte sie nach Sixth Edition-Rules kniffliger ausfallen? Wir erinnern uns (oder scrollen kurz hoch zum Schaubild): Die Frage stellt sich nur am Ende des gegnerischen Zuges nach nicht erfolgtem Angriff. Und die Wahl besteht hier nicht zwischen einer von zwei Arten des 1-zu-1-Tauschs (gegen Land oder Löwe), sondern zwischen Tempo und Kartenvorteil. Wahlweise bekommt man das Land jetzt – oder später zusammen mit einer Trophäe a.k.a. einem Löwenkopf, den man sich an die Wand hängen kann. Tempo oder Kartenvorteil? Die Grundfrage magischer Existenz. Das ist eine harte Entscheidung. Und immens wichtig für den weiteren Verlauf einer Partie.

Lasst euch nicht für dumm verkaufen! Eure strategischen Möglichkeiten, den Ausgang eines Spiels zu beeinflussen, haben durch die Regeländerung nicht zugenommen. Selbst in diesem Beispiel nicht, und in anderen erst recht nicht. Sind sie massiv geschrumpft? Nein. Aber eben doch ein bisschen. Übrigens ist Sakura-Tribe Elder, ebenso wie viele seiner Kollegen von Mogg Fanatic über Arcbound Ravager bis Momentary Blink, heute eine schlechtere Karte. Tauchen schlechtere Karten zufälligerweise seltener in Decks auf – oder entsprechende Decks seltener? Hoppala, dann sind soeben noch einmal ein paar Möglichkeiten der Einflussnahme weggefallen.

Fazit

Nein. Dramatisch ist das alles nicht. Mit anzusehen, wie Nahrungsmittelexperten in irgendwelchen Talkshows zähneknirschend einräumten, dass Kunstkäse, Scheinschinken und Monatsmilch kein Gesundheitsrisiko darstellen, war schließlich ganz witzig, und von dem Skandal ist in letzter Instanz ja auch nur übriggeblieben, dass die Pizza jetzt damit wirbt, ausschließlich echten Käse zu enthalten.


Gleichermaßen kann Vampire Hexmage für sich in Anspruch nehmen, Tuktuk Grunts noch genauso zuverlässig totzublocken wie vor der Revolution. Damals hätte die Dame dafür zwar keinen Erstschlag benötigt, im Gegenzug ist sie heute aber ein brillante Ausnahme von der Regel. Und wenn Goblin Arsonist bloß eine Extrafähigkeit bekommen hätte, die da lautet: „Sacrifice Goblin Arsonist: Activate this ability only any time you have priority“, dann wäre er genau wie Mogg Fanatic vor einem Jahr. Es gibt Wege, die Not zur Tugend zu machen. Für Pizza und für Magic.

Die Revolution hat Magic vereinfacht. Nicht so sehr, dass man von Verblödung sprechen müsste, aber vielleicht so, dass es neuen Spielerschichten zugänglicher wurde. Ob das so ist und ob das eine das andere aufwiegt, lässt sich schlecht beurteilen. Doch daran, dass das die Frage sein muss, daran darf überhaupt kein Zweifel bestehen. Denn Magic wurde selbstverständlich simpler und hoffentlich selbst verständlicher.

So bleibt uns nichts weiter, als im Zweifel für den Angeklagten zu stimmen und auf ganz viele neue Hexmages zu hoffen – aber nicht ohne gleichzeitig in stiller Trauer der gefallenen Genossen zu gedenken. Vor einem Jahr haben sich Mogg Fanatic & Co. vielleicht zum allerletzten Mal geopfert. Nicht für Schaden oder sonst etwas, sondern für die Revolution.




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