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Sagenhaft (I)
von Tobias Henke
07.06.2010

Zum Einstieg will ich heute kurz etwas über einen Magic-Spieler erzählen, den ich mittlerweile auch schon seit Apocalypse kenne. (Ja, was weiß ich denn, wie viele Jahre das sind.) Der wurde früher immer fürchterlich kiebig, wann immer man ihm widersprochen hat. „Willst du damit etwa sagen, dass ich lüge?!“, pflegte er dann zu poltern und guckte grimmig. Und an der Stelle musste man unbedingt erwidern: „Nein, ich sage nur, dass du dich irrst.“


„Nein, Bottle Gnomes sind keine gute Sideboardkarte gegen Dredge.“
„Willst du damit etwa sagen, dass ich lüge?!“
„Nein, ich sage nur, dass du dich irrst.“

Oder:

„Doch. Das ist ein ganz schöner Umweg, den du hier fährst.“
„Willst du damit etwa sagen, dass ich lüge?!“
„Nein, ich sage nur, dass du dich irrst.“

You get the point. Jedenfalls wurde diese Routine viele, viele Male wiederholt. Bis zu diesem einen Tag, als er sich fest mit beiden Beinen auf einen besonders absurden Standpunkt stellte und partout nicht abrücken wollte: „Willst du damit etwa sagen, dass ich lüge?!“ „Nein, ich sage nur, dass du dich irrst.“ „Nein, ich irre mich nicht!“, schnappte er da... fing an zu grinsen und fügte hinzu: „Ich lüge.“

Wisst ihr, was derzeit der am meisten falsch zitierte Artikel ist? Ständig hört man doch, Mark Rosewater hätte versprochen, dass Mythic Rares nicht die stärksten Karten eines Sets sein würden; oder dass sie hauptsächlich irgendwelche Legenden wären; oder dass „tournament staples“ nicht Mythic sein würden. Schauen wir aber einmal, was er wirklich geschrieben hat:

How are cards split between rare and mythic rare? Or more to the point, what kind of cards are going to become mythic rares? We want the flavor of mythic rare to be something that feels very special and unique. Generally speaking we expect that to mean cards like Planeswalkers, most legends, and epic-feeling creatures and spells. They will not just be a list of each set's most powerful tournament-level cards.

We've also decided that there are certain things we specifically do not want to be mythic rares. The largest category is utility cards, what I'll define as cards that fill a universal function. Some examples of this category would be cycles of dual lands and cards like Mutavault or Char.


Die meisten Legenden sollen Mythic Rares sein, nicht etwa umgekehrt die meisten Mythic Rares Legenden. Und die Mythic Rares sollen nicht nur eine Liste der stärksten Turnierkarten eines Sets sein. Nicht nur, aber auch? Tja, wie jeder Pressesprecher weiß, ist gut verschleiert eben halb gewonnen.


Was aber noch viel mehr stört, ist die unzureichende Definition von „utility cards“. Rückblickend mögen Mutavault und Char in diese Kategorie fallen, doch das effektivste Feuerzeug seiner Zeit, noch dazu eine Neuauflage des sagenumwobenen Psionic Blast, der nun endlich seinen angestammten Platz in der Farbe der Flammen einnimmt... Ja, wenn man es so ausdrückt, hätte man Char auch leicht als Mythic Rare verkaufen können. Und hatte Mutavault nicht sogar irgendeine Relevanz in der Storyline? Velis Vel, heilige Stätte der Changelings oder so?

Ach, wir betrachten das Ganze rein von der mechanischen Seite? Na, dann widerspricht Rosewater sich aber. Es gibt doch überhaupt keinen Kartentyp, der dermaßen für archetypübergreifende Utility steht wie Planeswalker! Sämtliche Kontrolldecks nutzen Jace. Im stärksten Beatdowndeck dieser Tage darf er zwar fehlen, tut es aber immer seltener. Und wenn man denn so weit gehen möchte, Polymorph, Summoning Trap oder Brilliant Ultimatum als Kombokarten zu bezeichnen – also die kommen bestimmt nicht ohne aus!


Wie unglaublich flexibel die Planeswalker unterdessen geworden sind, sieht man schon an manchen Decklisten. Da hat man ein weitestgehend kreaturenloses Deck mit Jace, the Mind Sculptor, Elspeth, Knight-Errant und Gideon Jura und gleich als Nächstes kommt ein Mythic-Bant-Deck, in dem die einzigen Nicht-Kreaturen Jace, the Mind Sculptor, Elspeth, Knight-Errant und Gideon Jura heißen. Hey, du hast ein Deck ohne Kreaturen? Nimm Planeswalker! Du hast ein Deck ohne Spells? Nimm Planeswalker!

Gideon ist sowieso ein tolles Beispiel. Den spielt nämlich niemand wegen irgendeiner seiner Fähigkeiten. Niemand. Bloß weil er alles drei kann, schließt er allmählich zum Kollegen Jace auf. (Grand Prix Washington Top 8: Jace, the Mind Sculptor – 15, Gideon Jura – 12.) Nein, Gideon Jura ist selbstverständlich keine „utility card“. Welch sonderbare Idee! Schließlich erfüllt er keineswegs eine „universal function“. Er erfüllt drei.

Früher einmal musste man als Magic-Spieler selbst für Utility sorgen. TrashT zum Beispiel hatte immer ein Händchen dafür, Karten auf ungewöhnliche Weise einzusetzen. Als er im Odyssey-Block mit Blau-Schwarz gegen Mirari's Wake ein fürchterliches Matchup abbekam, sideboardete er alle Gloomdrifter und Aboshan, Cephalid Emperor ein und spielte auf einmal das klobigste Beatdowndeck aller Zeiten. Erfolgreich, weil sein Gegner wie gewöhnlich davon ausgegangen war, sich lediglich um ganz, ganz wenige Kreaturen kümmern zu müssen. Und wahrscheinlich hat kein Mensch im Constructed so viele Solar Blast ausgespielt wie er; denn dafür war die Karte ja eigentlich nicht gedacht.


Heutzutage sind wir natürlich alle Planeswalker. Ihr seid Planeswalker, Trash auch, ich und bei Jace steht's sogar drauf. Und niemand verkörpert die neue Gleichberechtigung so wie Gideon Jura. Ich weiß nicht, ob ihr den einmal im Limited ausgespielt habt, aber das ist ungefähr so, als ob ihr einen Zuschauer fragt, welchen Spielzug ihr jetzt machen sollt, und der Zuschauer antwortet: „Ja, also als Erstes musst du diese Kreatur umbringen, dann so blocken...“ Und bevor ihr euch verseht, sitzt er schon auf eurem Platz, hält eure Karten in der Hand und deklariert gerade den finalen Angriff. Danke, Gideon, aber... Und Gideon klopft euch auf die Schulter und sagt: „Dein Spiel. Glückwunsch.“ Dabei fühlt es sich irgendwie gar nicht mehr an wie euer Spiel.

„Ich habe den einzigsten Laden im Großraum Frankfurt.“
„Nein, hast du nicht.“
„Wieso? Doch!“
„Nein, was du hast, das ist der einzige Laden.“
„Ach Kacke, ich bin schon wieder drauf reingefallen.“

Das soll im Grunde nur kurz verdeutlichen, dass Jens Kessel ein Mensch ist, der durchaus schrecklich viele Dinge nicht weiß. Doch zumindest bei Magic-Einzelkarten kennt er sich für gewöhnlich gut aus. Trotzdem drehen sich in letzter Zeit unsere Gespräche immer öfter um die Frage: Warum sind Mythic Rares dermaßen schweineteuer?

Wisst ihr es? Ich weiß es nicht. Und Jens genauso wenig. Pischner weiß es. Und wusste es schon immer. Kann es aber dummerweise nicht ordentlich erklären. Man sollte ja meinen, dass die Dinger so schweineteuer sind, weil sie so schweineselten wären. Problem ist bloß, dass sie das einfach nicht sind. Im Schnitt muss man für einen Gideon Jura 120 Booster aufreißen. OK, Quizfrage: Wie viele Booster Odyssey musste man aufreißen, um einen Shadowmage Infiltrator oder einen Call of the Herd zu bekommen? Wie viele Onslaught-Booster für einen Exalted Angel? Na...? 110!

Jace, the Mind Sculptor marschiert ungeachtet dessen gegenwärtig von der 50 zur 60. Die Erklärung müsste lauten, dass die Karte schlicht derart abstrus overpowert ist, dass sie selbst als moderne Nicht-Mythic Rare schon auf 25 käme, oder als Rare nach dem alten System auf 45. Und wisst ihr was? Das erscheint mir gar nicht einmal so unrealistisch. Für einen Tarmogoyf brauchte man schließlich auch nur 60 Booster Future Sight.

Der Rest? Der geht aufs Konto vom lieben Internet. Welche Karten gut und welche schlecht sind, das weiß heute selbst, wer unter einem Stein hinter dem Mond lebt. Und wichtiger noch: Die Vertriebswege hinken den Informationskanälen nicht mehr allzu weit hinterher. Einen wirklich freien Markt, an dem einzig Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen, den haben wir vielleicht zum allerersten Mal. Deshalb sind billige Karten so viel billiger als früher, während die teuren in Bereiche vorstoßen, die nie ein Mensch zuvor gesehen hat.

An dieser Stelle heißt es, Cut!, und geht es nächste Woche weiter. Bis dahin.






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