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Dem Grundset auf den Grund gegangen
von Andreas "Zeromant" Pischner
09.03.2009



Ah, M10. Falls Ihr gerade erst unter dem berühmten Stein hervorgekrochen seid, wird Tobi hier mit Sicherheit einen Link zu Aaron Forsythes Artikel gesetzt haben, welchen Ihr anklicken könnt, um Euch zu informieren. Außerdem gibt es da einen Podcast auf StarCityGames von einer halben Stunde Länge, in dem Forsythe zu diesem Thema interviewt wird, und den ich mir aus journalistischem Pflichtgefühl angetan habe.

Ich bin auf meinem Blog schon von mehreren Leuten gefragt worden, was ich denn von dieser völligen Neuinterpretation des Grundsets hielte, und habe mich bedeckt gehalten, weil ich wusste, dass ich einen kompletten Artikel darüber schreiben würde. Nur eines hatte ich schon erwähnt: Ich war keineswegs KOMPLETT überrascht, wie so mancher andere – nur HALB so überrascht, könnte man sagen.

In meinem vorigen Artikel zur Entwicklung des Standard-Formates hatte ich ja bereits festgestellt, dass das Grundset in seiner jetzigen Form keine sinnvolle Funktion mehr erfüllt. Da hatte ich noch nichts von dieser Ankündigung gewusst! Allerdings habe ich – zugegebenermaßen auch, ohne wirklich darüber nachzudenken – erst einmal einen anderen Schluss daraus gezogen, nämlich dass das Grundset schlicht abgeschafft würde.

Das ist offensichtlich nicht passiert: Stattdessen wollen Wizards es vollständig umkrempeln, damit es wieder eine Funktion erfüllt!

Internetartikel sind übrigens eine interessante Veröffentlichungsform. (Nanu, wieso dieser plötzliche Themenwechsel? Na ja, der Pischner wird schon seinen Grund dafür haben!) Sie erlauben einem viel stärker als bei gedruckten Texten, andere Medien einzubinden. Auf diesem Gebiet bin ich zwar eher konservativ – ich verabscheue diese ganzen YouTube-Videos und Podcasts – aber völlig geht diese Entwicklung auch nicht an mir vorbei. Insbesondere denke ich, dass jeder im Internet befindliche Text Teil eines Netzwerks ist: Zahlreiche andere Seiten verlinken auf ihn, und er selbst verlinkt auch oft auf andere Seiten. Wie praktisch ist das doch, und welch ein Fortschritt gegenüber dem guten alten Querverweis! (Ihr wisst schon: Siehe „Magic in Theorie und Praxis, Band VII“ v. Andreas Pischner, Seite 45ff, Berlin 2013; oder so ähnlich) Leider ist der Anteil derjenigen Leser, die solche Hinweise nutzen, um sich weitergehend zu informieren, nicht besonders hoch, aber denjenigen, die das möchten, die Gelegenheit dazu zu geben, das ist doch eine tolle Sache oder? (Deswegen hoffe ich auch immer darauf, dass mein jeweiliger Editor fleißig ganz, ganz viele passende Links setzt!)

Wenn man bereits so viel über Magic verfasst hat wie ich, dann liegt es in der Natur der Sache, dass man dabei auch immer öfter auf Eigenes verweist. (Und sei es auch nur, weil man sich daran halt besonders gut erinnert.) So habe ich zum Beispiel vor nunmehr fünfeinhalb Jahren (Unerträglich, wie die Zeit rennt...) eine Artikelreihe unter dem Titel „Quo Vadis, Core Set?“ verfasst, anlässlich des Erscheinens der Achten Edition, welche damals mit dem neuen Kartenlayout unsere heile Magic-Welt erschütterte. Im vierten Teil dieser Reihe schreibe ich da unter anderem Folgendes:

„Beginnen wir mit dem Flavor: Was macht das Flavor eines Kartensets aus? Die Spielstärke spielt da eher eine untergeordnete Rolle. Mechaniken können Flavor erzeugen oder unterstreichen, aber der bestimmende Faktor ist wohl die „Identität“ der Karten, die sich in Kartenname, Artwork und Flavor-Text ausdrückt. Die Originalversion von Magic (ja, ich spreche über Alpha/Beta/Unlimited) hatte, obwohl sie aus heutiger Sicht ein äußerst „unfertiges“ Produkt war, enorm viel Flavor, was sicherlich auch maßgeblich mitentscheidend für den Erfolg des Spiels gewesen ist. Vieles von diesem Flavor ist, finde ich, im Lauf der Jahre verlorengegangen – durch andere Interpretationen ersetzt, durch spieltechnische Erwägungen in den Hintergrund getreten, oder der sich ständig erweiternden Vielfalt von Magic zum Opfer gefallen.

Was hat das Flavor des Originalspiels ausgemacht? Zunächst einmal war der Hintergrund weitaus näher an einer „klassischen“ Fantasywelt als heute. Weiß wurde durch Einhörner, Ritter und Engel repräsentiert, Schwarz durch Skelette, Zombies und Vampire, Grün durch Elfen, Wölfe und Bären, Blau durch Meermenschen, Zauberer und Seeschlangen und Rot durch Goblins, Riesen und Drachen. Artefakte waren wundersame Dinge magischer Herkunft, oder bestenfalls primitive Uhrwerk-getriebene Maschinen mit Messingüberzug.

Diese klassischen Fantasy-Archetypen wurden nach und nach durch Storyline-bezogene Konzepte ergänzt oder ersetzt: So wurde Schwarz plötzlich die Farbe der phyrexianischen Monstrositäten und Rot und Grün boten im Invasion-Zyklus hauptsächlich die neu erfundenen „Kavu“... Artefakte wurden immer High-Tech-artiger, entwickelten sich hin zum „Magepunk“-Stil, zu dem sich die Designer des Spiels unterdessen bekennen.

Ist das nun gut oder schlecht? Letztendlich ist es wohl Geschmackssache. Eine Folge davon ist jedoch, dass das Grundset seine abgestimmte Identität verlor und nunmehr ein Mischmasch aus Relikten der verschiedensten Hintergünde ist.“


Wenn man nun liest, was Aaron Forsythe über M10 schreibt, dann könnte man doch glatt den Eindruck erhalten, mein damaliger Artikel wäre mit einigen Jahren Verzögerung doch noch zu Wizards durchgedrungen, oder?

Aber natürlich ist das noch lange nicht alles, was zu der neuen Konzeption des Grundsets zu sagen ist. Tatsächlich denke ich, um diese Veränderung und die dahinterstehende Motivation wirklich zu erfassen, muss man sie in einen weit größeren Kontext einordnen.

In meinem vorigen Artikel habe ich bereits aus dem Interview mit Ingo Muhs zitiert, in welchem dieser auch von der „Phase des Umbruchs“ spricht, in der sich Magic zurzeit befinde. Wisst Ihr, als jemand, der bereits seit über 14 Jahren dabei ist, sehe ich vielleicht etwas deutlicher als mancher andere, WIE grundlegend sich Magic tatsächlich zur Zeit ändert: Vorher gab es alle paar Jahre einmal einen echten Aufreger – die Einführung der Reserved-List, die Sixth Edition-Rules, Magic Online und das neue Design waren dabei wohl die größten. Aber diese massive Ballung von Neuerungen in kurzer Zeit, die wir zuletzt beobachten konnten, die sticht da einfach heraus!

Mal schauen, ob ich bei dieser Aufzählung auch nichts vergesse: Vor knapp zwei Jahren wurden Magic-Sets in allen Constructed-Formaten ab dem Tag ihres Erscheinens für legal erklärt. Die Zehnte Edition erschien als erstes Grundset schwarzrandig. Dann wurde ab Lorwyn ein neuer Kartentyp eingeführt, Planeswalker, was (abgesehen von dem kurzen Bestehen der „Mana Source“ zu Mirage-Zeiten) seit der Einführung des Spiels nicht vorgekommen ist. Shards of Alara brachte uns dann, einhergehend mit kleineren Setgrößen, eine weitere Häufigkeitsstufe, die Mythic Rare. Außerdem befanden sich von nun an Basic-Lands auch in Boostern von Erweiterungssets. Dann wurden die Turnierpackungen abgeschafft und die Preconstructed Decks durch Intropacks ersetzt. Die 6-Karten-Booster tauchten auf. Die Fatpacks änderten sich ebenfalls, hauptsächlich wegen der Magic-Romane, die jetzt nicht mehr einzelnen Editionen zugeordnet sein sollten, was wiederum zum übergreifenden Konzept der Vermarktung des Spiels über die Planeswalker gehörte. Im Bereich des Turnierspiels wurde die Extended-Rotation geändert (oder ist das schon ein wenig länger her?), das Total-Rating ersetzte das Composite, und gemischte Pro Touren wurden eingeführt. Oh, und die Wizards-Homepage – vormals magicthegathering.com – wurde komplett überarbeitet. Und Gleemax eingestampft. Undundund... Ich habe da bestimmt noch etwas Wichtiges übersehen, fürchte ich!

Jetzt wird also auch noch das Grundset völlig umgekrempelt! Einen Grund anzunehmen, dass damit erst einmal Schluss mit diesen ganzen Veränderungen ist, sehe ich nicht. Was wird als Nächstes kommen? Die Farbe Lila? Sniff'n'Scratch-Karten? Eine Zeichentrick-Serie für das Kinderfernsehen („Here I Rule!“, Ihr wisst schon)? Fehlerfreie deutsche Übersetzungen? Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt!

Magic hat sich natürlich, seit es besteht, immer wieder verändert. Wie Mark Rosewater auch nicht müde wird, immer wieder zu betonen, ist Veränderung ein fundamentaler Aspekt der Natur eines Sammelkartenspiels. Nun aber beobachte ich eine Meta-Veränderung, nämlich eine Veränderung in der Art und Weise, wie Veränderungen stattfinden. Wenn man früher den Eindruck hatte, dass Wizards nach langer Überlegung immer mal wieder einen Schritt vollzogen, der eine konsequente Weiterentwicklung ihres Produktes bedeutete, so erhält man zuletzt immer stärker den Eindruck von Aktionismus. Magic entwickelt sich nicht mehr in geordneter Form weiter, es versucht sich hektisch und verzweifelt neu zu definieren. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass da irgendjemandem ganz gewaltig die Muffe geht, entweder weil Magic selbst nicht mehr so einträglich ist wie früher, oder weil es zwar noch einträglich ist, aber Verluste ausgleichen muss, die der Mutterkonzern in anderen Bereichen einfährt, und deswegen gute Umsätze nicht mehr gut genug sind.

Zwei Grundwahrheiten, die sowohl im Sport als auch im Wettbewerb der freien Wirtschaft gelten, lassen sich wunderbar als Phrasen dreschen: Da ist einmal: „Stillstand ist Rückschritt“ – wenn die Macher von Magic tatsächlich so konservativ agierten, wie ihre Kundschaft dies immer wieder lautstark von ihnen verlangt, würde dieselbe Kundschaft sich nach und nach von Magic ab- und innovativeren Formen der Unterhaltung zuwenden. Zum anderen gilt aber auch: „Never change a winning team“ bzw. „If it ain't broke, don't fix it“ – wenn etwas funktionert, sollte man es nicht unnötig verschlimmbessern. Wenn Wizards zuletzt so viele heilige Kühe zu schlachten begonnen haben, dass Burger King daraus ein neues Angebot des Monats machen könnte (mhm... Holy Cow XXXL, das klingt lecker, oder?), dann zeigt das, dass das Team eben nicht mehr gewinnt, bzw. dass etwas an ihrem Produkt kaputt ist.

Die generelle Richtung dieser Neuorientierung haben wir ja bereits erkannt: Weg vom Turnierspiel als zentralem Mittel der Vermarktung, hin zu einer stärkeren Konzentration auf das Casual und die Anlockung von Neukunden. Davon ausgenommen ist allerdings derjenige Bereich des Turnierspiels, welcher vermutlich die größten Gewinne erzielt, nämlich die Booster-Drafts auf Magic Online. Was auch immer mit Magic mittelfristig passiert, die Draftbarkeit neuer Sets wird davon wohl nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.

Weil Magic in seiner Gesamtheit neu definiert wird, will ich die Bedeutung der Veränderungen, die M10 mit sich bringt, entsprechend auch in dieses sich verändernde Gesamtbild einordnen. Dabei ist für mich die vielleicht wichtigste Neuerung eine, die bislang in der Diskussion bestenfalls peripher angesprochen wurde (zum Beispiel hat Teardrop auf seinem Blog ja bereits eine „Pro-Kontra-Liste“ veröffentlicht): Eine jährliche Neuauflage des Grundsets bedeutet, dass die „vierten Sets“ wegfallen!

Blicken wir doch zurück auf die „geraden“ Jahreszahlen (also die, in denen kein neues Grundset erschien): 2008 – Wizards experimentieren mit der Struktur des Doppelblocks, Lorwyn + Morningtide und Shadowmoor + Eventide. 2006 – Wizards finden Coldsnap in Richard Garfields alter Büroschublade. 2004: Unhinged gelangt auf den Markt.


Alle diese Veröffentlichungen sind offensichtlich besondere Einzelfälle, aber sie zeigen auf, dass Wizards davon ausgeht, vier Magic-Sets pro Jahr sind die richtige Anzahl! Dabei haben sie zuletzt die Grundset-losen Jahre für allerlei Experimente genutzt, von denen keines wirklichen Erfolg hatte: Unhinged war zwar nicht unbeliebt, erreichte aber niemals die Verkäufe eines „echten“ Magic-Sets (schon gar nicht weltweit); Coldsnap hatte einen wirklich schlechten Ruf und verkaufte sich auch dementsprechend, und das Mammutjahr mit Lorwyn und Shadowmoor überforderte die Spielerschaft dermaßen, dass Wizards sich genötigt sahen, die Zahl der Karten, welche sie auf den Markt brachten zu reduzieren. In den ungeraden Jahren wiederum gerieten die Grundsets, trotz aller Bemühungen, immer wieder zur unbeliebten Pflichtveranstaltung. Zwar gelang es mal mehr, mal weniger, anfängliche Begeisterung dafür auszulösen, aber dem Vergleich mit den Erweiterungssets hielt das Grundset einfach nicht stand.

Ich behaupte daher, eine Kardinalmotivation für die neue Grundset-Politik ist einfach diejenige: Wizards wollen uns vier Sets pro Jahr verkaufen! Dabei war das Lorwyn/Shadomoor-Experiment wohl ein erster Feldversuch, wie dieses Konzept aufgenommen wurde, der nicht zufriedenstellend verlief. Wäre hier ein größerer Erfolg zu verzeichnen gewesen, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass der einfachere Weg beschritten worden wäre, die überflüssigen Grundsets ersatzlos zu streichen und dafür die großen Sets ein wenig anfängerfreundlicher zu gestalten und mit ein paar Staple-Karten zu durchsetzen! (Eine gewisse Tendenz dazu lässt sich bei Shards of Alara ja auch durchaus bereits erkennen.)

Das hat aber nicht funktioniert, die Spieler rebellierten. Ein anderer Ansatz musste her. Mal sehen... die Existenzberechtigung des Grundsets wurde öffentlich noch nicht infrage gestellt. Allerdings verkaufte es sich einfach nicht gut genug, weil seine Karten zum größten Teil bereits in anderen Versionen erhältlich waren. Was man also brauchte, war ein Set, welches nicht als zusätzlicher Kaufzwang empfunden wurde, wie es bei Eventide der Fall war, sondern allgemein akzeptiert, wie das Grundset, welches aber trotzdem neue Karten enthielt, damit es Anreize gab, es auch tatsächlich zu kaufen. Die Lösung kennt Ihr. Sie nennt sich M10!

Mithilfe dieses Konzeptes konnten die Begründungen für die Existenz von Grundsets als Rechtfertigung dafür dienen, ein viertes Set pro Jahr einzuführen. Zwar sind „nur“ 50% von dessen Karten neu, aber das macht letztlich überhaupt keinen Unterschied: Wie ich auch schon bei den Mythic Rares anmerkte, müssen für jede Karte genügend Kopien aus Boostern geöffnet werden, um die Nachfrage nach ihnen zu befriedigen.

Vier Sets, vier Pro Touren – diese Korrelation hat Forsythe bereits in seinem Interview angesprochen. Das ist kein Versuchsballon hier, sondern der Versuch einer neuen langfristigen Strategie: Frühling – Sommer – Herbst – Winter – der Preis bleibt! (Ach nee, da habe ich wohl etwas durcheinander gebracht.) Endlich ist das Jahr gleichmäßig zwischen vier Erweiterungen aufgeteilt!

Wenn man den Aussagen Forsythes Glauben schenken darf, dann ist auch bereits klar, mit welcher Methode sichergestellt wurde, dass Turnierspieler die Nachfrage des neuen Sets in die Höhe treiben: Man druckte einfach neue Doppelländer (die natürlich Rares sein werden)! Vorgeblich ging es Wizards zwar darum, dass Anfänger nicht mit dem Konzept, Lebenspunkte für Manasicherheit zu opfern, überfordert werden – aber wäre das ein Grund, nicht einfach auf das bestehende Konzept der Tappländer (Coastal Tower etc...) zurückzugreifen? Natürlich nicht! Nein, es geht darum, die Turnierspieler zum Investieren in M10 zu zwingen, die für Standard – und je nachdem, WIE stark diese Länder sind, möglicherweise auch bereits von Anfang an für Extended – zwingend auf diese Manafixer angewiesen sind.

Auf mich macht diese Strategie jedoch ein wenig den Eindruck, als wenn man den letzten Tropfen aus einer versiegenden Quelle pressen wollte. Schließlich befindet sich die Constructed-Turnierszene ja längst nicht mehr im Fokus der Wizard'schen Bemügungen. Ironischerweise argumentiert Forsythe in jenem Interview übrigens so, dass Turnierspieler sich die Karten, die sie benötigen, eh vom Einzelkartenmarkt besorgen würden und es ihnen deswgeen egal sein könne, aus welchen Sets sie ursprünglich stammten – was für eine Verklärung! Irgendjemand muss diese Booster eben öffnen, und wenn er dazu von einem weiteren Set Displays aufreißen muss, dann wird sich das natürlich auf den Preis dieser Karten auswirken. Turnierspiel wird also mit M10 wieder ein weiteres Stückchen teurer. Kurzfristig kriegen Wizards aus dieser Zielgruppe noch einmal ein wenig mehr Geld herausgequetscht, aber langfristig wird dies den Abstieg der Constructed-Turnierszene nur weiter beschleunigen. (Die potenziell kürzere „Haltbarkeit“ dieser Karten in Standard wird wohl auch dazu beitragen.)

Aus dieser Perspektive will ich deswegen gar nicht weiter schauen: Die Zukunft von Magic liegt eh im Casual und im Limited. Was hat M10 hier zu bieten?

Fangen wir mit Limited an: Wer meine Artikel in den letzten Jahren aufmerksam gelesen hat, wird wissen, dass ich ein großer Fan des Grundset-Limited gewesen bin – zumindest, bevor mit der Neunten Edition dieses Format dermaßen langsam geworden ist, dass Grizzly Bears unspielbar wurden und Plague Wind einen First Pick darstellte.


Im Gegensatz zum Limited mit Erweiterungen, welches immer ein oder zwei besondere Kniffe mit sich bringt – Mehrfarbigkeit, Tribal-Synergien etc... – beschränkt sich das Grundset bei seinen Karten auf grundlegende Funktionen und arbeitet die Stärken und Schwächen einzelner Farben deutlicher heraus. Wenn dann auch die Balance zwischen den Farben einigermaßen gewahrt und das Format erträglich schnell ist, dass es nicht von teuren Spoilern dominiert wird, dann gilt zumindest für den Draft (Sealed ist eh hoffnungslos), dass dieser in besonderem Maße die Beherrschung der grundlegenden Draftskills belohnt: Signale geben und lesen, Farbpräferenzen setzen, auf die Kurve achten, seinem Deck eine klare taktische Ausrichtung geben, Synergien finden und sein Sideboard intelligent einsetzen!

Grundsets bieten also potenziell ganz hervorragende Bedingungen für das Limited-Spiel: Wenn ich dann höre, wie Forsythe nicht weniger als FÜNF M10-Limited-Grand-Prix ankündigt, dann erlaube ich mir auch zu hoffen, dass dieses Potenzial tatsächlich genutzt wird. Jedoch... (Wenn es schon kein „aber“ gibt, so doch wenigstens ein „jedoch“!) Ich muss befürchten, dass ich diese ganze Angelegenheit wieder einmal aus der Warte des alteingesessenen Turnierveteranen betrachte. Ich bin NICHT das primäre Zielpublikum für dieses Set (oder für irgendein anderes). Die Binsenweisheit lautet: Je stärker sich bei einem Spiel die besten Spieler durchsetzen, desto weniger Spieler haben Spaß daran! Und gerade M10 soll sich an Casual-Spieler und Anfänger richten. Da muss man doch damit rechnen, ein langsames, Spoiler-verseuchtes Format vorgsetzt zu bekommen, damit diese Spieler mit ihrer Strategie des Rare-Pickens und unter Zuhilfenahme der auf diese Weise in ihre Decks gelangten offensichtlichen Spoiler einen höheren Anteil Spiele gewinnen.

Prinzipiell ist dieses Dilemma ja dadurch lösbar, dass man ein Environment so designt, dass Sealed Deck (dasjenige Format also, welches bei Grand Prix, zumindest im Turnier selbst, insgesamt VIEL mehr gespielt wird als Draft) langsam und stark glücksabhängig ist, während Draft den Spielern mehr abverlangt. Tatsächlich lässt sich dazu in den letzten Jahren auch eine gewisse Tendenz dazu erkennen, was natürlich für die Feintuning-Fähigkeiten der Wizard'schen Development-Abteilung spricht. Solche subtilen Abstimmungen haben aber auch Nebenwirkungen, wie man zuletzt beim Alara-Sealed gut erkennen konnte: Aufgrund der Varianz der Sealed-Pools begannen die stärksten Sealed-Decks Draftdecks zu ähneln – nur ohne das ausgleichende Moment des Drafts, in dem natürlich nur eine begrenzte Anzahl Spieler dieselbe Farbkombination benutzen können und Ungleichgewichte zwischen verschieden starken Strategien sich durch die Häufigkeit, mit der sie gedraftet werden, relativieren. Mit anderen Worten, die stärksten Sealed-Decks waren praktisch immer Naya-Decks...

Man wird abwarten müssen, ob dieses Feintuning auch bei M10 versucht und erfolgreich durchgeführt wurde. Ich bin leider nicht vollständig davon überzeugt, dass es noch die höchste Priorität besitzt, da Booster Draft – insbesondere auch in den Staaten, wie die Statistik zeigt – einen immer größeren Zulauf verzeichnet und somit auch der Anteil der weniger erfahrenen Spieler immer größer wird (was wiederum bedeutet, dass die Motivation, die anspruchsvolleren Turnierspieler zufriedenzustellen, immer kleiner wird).


Früher galt Draft als eher einsteigerunfreundliches Format, da es doch erheblich größere Ansprüche stellt als Sealed (welches auch nicht unbedingt einfach für Neulinge ist), doch mehrere Faktoren haben begonnen das zu ändern: Da ist einmal das Faktum, dass immer mehr Läden Drafts anstelle von Standard anbieten, und wenn auch gewiss nicht alle, so geben doch zumindest einige Einsteiger diesem Format mangels Alternative zumindest einmal eine Chance (und wenn sie als Rare-Drafter zwischen „ernsthaften“ Draftern sitzen, ziehen sie oft einen positiven Vergleich gegenüber dem bloßen Öffnen von Boostern). Dann sind da die Grand Prix, die sich immer stärker zur beliebtesten Turnierform mausern, und in deren Sog viele Spieler sich doch einmal verleiten lassen, versuchsweise in einem Draft Platz zu nehmen. Und schließlich ist da Magic Online, wo Drafts schlicht die prominenteste Turnierform darstellen und mit den neuen, weniger kopflastigen Payout-Systemen für Einsteiger zuletzt deutlich attraktiver geworden sind. (Und dass auf MOL 3.0 längere Zeit keine Sealed-Ligen stattfanden, hat gewiss auch seinen Teil dazu beigetragen.)

Ist Wizards diese Entwicklung verborgen geblieben? Ich denke, nicht! Tatsächlich beleuchtet sie eine weitere Motivation für das M10-Konzept: Drafts lösen Standard als das verbreiteteste Turnierformat ab. Was wäre also sinnvoller, als Drafts noch einsteigerfreundlicher zu gestalten? Vielleicht kennt Ihr ja den Booster Draft Simulator auf dailymtg.com? (Übrigens ein durchaus nützliches Werkzeug, um sein Draftverständnis zu verbessern, so lange man sich im Klaren ist, was es leistet und was nicht – Genaueres darüber findet Ihr auf meinem Blog.)


Ich denke, es ist kein Zufall, dass dieses Feature nie für Shards of Alara upgedatet wurde... Der Plan, das übersichtlichere Grundset zu nutzen, um einen leichteren Einstieg in Drafts zu schaffen, war offensichtlich bereits mit der Zehnten Edition verfolgt worden, scheiterte aber an der mangelnden Attraktivität dieses Sets im Vergleich zu den Erweiterungen.

Hier kommen noch einmal die 50% neuen Karten und insbesondere der neue Rare-Zyklus Doppelländer ins Spiel: Damit ein Format mit Begeisterung gedraftet wird, muss es auch die Rare-Drafter locken! Hier versuchen Wizards einen Spagat: Einerseits soll die Hürde für Neudrafter möglichst tief gelegt werden, andererseits muss das Set auch für Spieler, die bereits länger dabei sind, attraktiv sein.

An dieser Stelle möchte ich auf etwas reagieren, was ich im Feedback zu meinem vorigen Artikel gelesen habe, und zwar hat Ashraf etwas Kluges gesagt (nein, ehrlich – das kommt vor!): Für erfahrene Spieler wird Magic Online aufgrund der bekannten Vorteile zunehmend attraktiver – aber es kann nicht für Nachwuchs sorgen! Es ist und bleibt nun einmal die Umsetzung eines Kartenspiels in der virtuellen Welt, und wer dieses Kartenspiel nicht bereits kennt, der wird wenig Gründe finden, der Computer-Variante eine Chance zu geben – dafür ist die Palette an Spielen, welche die Möglichkeiten dieses Gerätes weit besser ausnutzen, einfach zu groß – ein Computer, mit dem man über ein Netzwerk ein KARTENSPIEL zockt, das ist ein bisschen so, als wenn man sich für einen Abend eine Edelprostituierte mietet, um ihr die Wangen zu streicheln: Irgendwie nutzt man die vorhandenen Möglichkeiten nicht ansatzweise aus.

Mit Hinblick auf diese Erkenntnis treten die Funktionen von RL-Magic und Magic Online noch klarer hervor: Die Pappkarten müssen neue Spieler anlocken, und der Computer gibt dann den erfolgreich angefixten Spielern die Gelegenheit, ihrer Sucht bequem zu frönen. In diesem Licht müssen zurzeit alle Entscheidungen von Wizards betrachtet werden. Und deswegen wird bei M10 so viel Wert darauf gelegt, dass dieses Set möglichst viel (und vor allem möglichst LANGE, nämlich die komplette Zeit, die es aktuell ist) gedraftet wird. Draft ersetzt Standard als das „Standard“-Magic-Format, und das Grundset übernimmt die Rolle des „Standard“-Sets.

Wie stehe ich nun als Casual-Spieler zu M10? Sehr, sehr zwiespältig! Einerseits ist eine Rückkehr zu den klassischen Fantasy-Elementen natürlich eine Entwicklung, die mir gefällt, und einige der bereits bekannt gegebenen neuen Karten sagen mir auch zu.


Auch die angedeutete Veränderung der Terminologie („cast“ anstelle von „play“ ist durch die Karte Silence ja bereits belegt, und es gibt weitergehende Gerüchte bezüglich der Umbenennung einiger Spielzonen, zum Beispiel „Void“ für das umständliche und unzutreffende „Removed from Game“) kann ich nur begrüßen!

Andererseits bin ich (immer noch, und ich sehe auch nicht, dass sich das jemals ändert!) ein begeisterter Magic-Spieler. Und das bedeutet für mich, dass ich dieses Spiel in seiner Gesamtheit spielen will! Wenn es irgendwo „da draußen“ interessante Karten gibt, dann will ich sie auch zur Verfügung haben – ich kann mir nicht einfach einreden, sie wären nie gedruckt worden. Deswegen gibt es für mich etwas wie „zu viel des Guten“, und die Anzahl an Karten, die derzeit herauskommen (wobei natürlich nicht alleine ihre bloße Anzahl maßgeblich ist, sondern auch ihre von der Seltenheit abhängige Verfügbarkeit), ist mir bereits zu groß. Die Einführung eines vierten Sets im Jahr (und natürlich auch wieder mit Mythic Rares) ist mir schlicht zu viel!

Für Casualspieler, denen es nicht um Vollständigkeit geht, sondern die sich eh immer nur einige interessante Karten aus dem Magic-Universum herauspicken, ist mehr Auswahl natürlich prinzipiell etwas Positives. Auch die Wiederbringung des „generischen“ Fantasy-Hintergrundes kann er eigentlich nur begrüßen: Magic springt in seinen Erweiterungen bereits seit einigen Jahren von einem „besonderen“ Setting zum nächsten, so lange schon, dass neuere Spieler es kaum noch mit klassischer Fantasy verbinden. Anstelle des früher ausgerufenen „Magepunk“-Stils findet Magic jetzt doch zu seinen Wurzeln zurück. Zur Stiftung seiner besonderen Identität werden stattdessen heute die Planeswalker herangezogen, von denen selbstverständlich die fünf typischsten Vertreter auch in M10 zu finden sind. (Aber da hat ja nun wirklich niemand etwas anderes erwartet – oder?)

Das Grundset macht also eine Wandlung von einem Best-Of der spielmechanisch elegantesten Karten zu einer Art „ruhendem Pol“ in der sich hektisch verändernden Magic-Welt durch – zumindest in seiner jetzigen Konzeption, denn dieser Aspekt beißt sich auf Dauer mit den anderen: Ohne den stetigen Austauch eines relevanten Anteils Karten von Jahr zu Jahr funktioniert weder der Verkauf der M-Reihe als viertes Set, noch lässt sich ihre Attraktivität für Booster-Drafts auf Dauer aufrechterhalten. Wie allerdings das Grundset ohne eine weitgehende Konstanz seines Inhalts die Rolle dieses ruhenden Pols bewahren soll, das kann ich mir nicht so recht vorstellen – klar können kreative Designer immer wieder neue Sprüche wie Wall of Frost oder Silence entwerfen, aber dieses Gefühl einer Rückkehr zu seinen Wurzeln kann man mit solchen Veränderungen nicht jedes Jahr erneut vermitteln.

Alles in allem denke ich, dass das Konzept der M-Reihe in den nächsten Jahren wahrscheinlich noch einmal kräftig modifiziert werden muss. Forsythe hat selbst in jenem Interview angekündigt, dass uns noch viel „new stuff“ ins Haus steht: Wizards verändern zurzeit nicht mit dem Meißel, sondern mit der Brechstange, und es ist nicht abzusehen, dass es überhaupt möglich sein wird, Magic noch einmal in einen stabilen Zustand zurechtzuzimmern! Zu groß ist das Spannungsfeld zwischen dem Versuch, durch Anpassung an „Industrie-Standards“ Massentauglichkeit zu erlangen und dem Bemühen, die auf seinem Image als Denksport für Erwachsene beruhenden Besonderheit von Magic zu bewahren. Diese Spannung spiegelt auch M10 wieder: Zum Teil noch klassisches Grundset, zum Teil eine weitere Expansion. Wie lange sich diese Gegensätze vereinen lassen, bleibt abzuwarten. M10 ist konzeptuell offensichtlich langfristig angelegt, deswegen wäre ein Misserfolg dieses Konzepts ein schwerer Schlag. Mit M11, spätestens jedoch M12 werden die Karten auf dem Tisch liegen, ob dieses neue Prinzip auf Dauer tragfähig ist. Der Einsatz jedenfalls ist hoch, denn eine Abkehr davon wäre die Offenbarung, dass Wizards nicht mehr planvoll agiert, sondern hastig und überstürzt, vor allem aber überfordert reagiert.
Ob Wizards diesen Dreh finden, oder ob sie stattdessen weiterhin nur hektisch rotieren und dabei wichtige Strukturen abschleifen, das wird sich in den nächsten Jahren zeigen...

Forsythe hat noch etwas Aufschlussreiches im SCG-Interview gesagt: Wizards bemühe sich, im digitalen Zeitalter seinen Platz zu bewahren. Daraus spricht (und das mit Sicherheit ungewollt) durchaus eine gewisse Orientierungslosigkeit! Magic ist unter Bedingungen entstanden und groß geworden, die heute nicht mehr existieren – die sich erheblich radikaler geändert haben, als Magic sich bislang geändert hat (auch, wenn die Ankündigung von M10 viele Spieler schockiert hat), und vermutlich mehr, als es sich ändern KANN, ohne seine Essenz zu verlieren. Vielleicht ist das auch gar nicht nötig: Vielleicht genügt ja eine Feinjustierung, eine gezielte Neuorientierung, gewissermaßen die geschickte Drehung eines komplexen Objektes, damit es in eine veränderte Fassung passt. Ob Wizards diesen Dreh – wenn es ihn gibt – finden, oder ob sie stattdessen weiterhin nur hektisch rotieren und dabei wichtige Strukturen abschleifen, das wird sich in den nächsten Jahren zeigen.




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