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Booster-Draft für Fortgeschrittene
Teil 1: Kartenbewertung
von Andreas "Zeromant" Pischner
01.12.2002

Mein allererster Boosterdraft - oder war es sogar ein Rochester Draft? Ich weiß es nicht mehr! - ist jetzt über fünfeinhalb Jahre her. Ich erinnere mich kaum noch an Details, aber es war ein Draft zur Zeit von Mirage gewesen, der bei einem Teamtreffen der Istari stattfand, bei denen ich zu dieser Zeit noch um Aufnahme ersuchte: Daniel Brickwell, Frank Schacherer, Martin Lüdecke, Stefan Funke & Boris Buschardt (Keiner dieser Originalbesetzung ist noch bei Magic aktiv - so lange ist das her!)

Die Tipps, die ich bekam, waren ungefähr folgende:

"Nimm die beste Karte aus jedem Booster, dann entscheide Dich nach jedem Booster gegen eine Farbe, dann hast Du am Schluss ein dreifarbiges Deck."
Ja, so wurde damals in Berlin gedraftet!! Mit dieser Strategie schnitt ich nicht nur bei meinem allerersten Draft gut ab (Ich glaube, ich habe unser kleines Turnier sogar gewonnen, bin mir aber nicht mehr ganz sicher. Auf jeden Fall war es ein Erfolgserlebnis für mich!); ich draftete danach auch noch eine ganze Zeit lang ziemlich erfolgreich, bis ich mich sogar für Pro Tour Mainz qualifizierte.

Bei diesem Rochester Draft Turnier kam ich dann zum ersten Mal mit Leuten in Berührung, die WIRKLICH draften konnten, und spielte das schlechteste Turnier meines Lebens! Ich weiß noch, wie ich mich über mein völlig fehlgeschlagenes erstes Deck mit Alan Comer unterhielt, der mich zum ersten Mal mit dem Prinzip des "friendly drafting" mit dem Ziel, andere Farben als die der Nachbarn zu draften (und zwar nach Möglichkeit nur ZWEI!), aufklärte.

Der nächste Schritt

Erst danach konnte ich den Schritt vom Draft-Anfänger zum fortgeschrittenen Drafter vollziehen! Bis dahin hatte ich Drafts ausschließlich mit meinem (relativ umfangreichen) Wissen über Sealed Deck bestritten, indem ich eben immer die besten Karten nahm, während die meisten anderen (Berliner) Drafter noch enorme Schwierigkeiten hatten, die Karten richtig zu bewerten, da sie ihre Einschätzungen aus ihren Erfahrungen mit Constructed-Formaten bezogen.

Nun aber eröffnete sich für mich eine völlig neue Perspektive: Die Welt des Signale Gebens und Lesens! Es dauerte nicht lange, bis ich von der Überlegenheit der "friendly draft"-Strategie vollends überzeugt war: Wenn ich mich mit meinen Nachbarn früh einigte, wer welche Farben draftete, und daher kaum noch Picks an Farben, die ich nicht spielte, verschwendete, und gleichzeitig mehr gute Karten in meinen Farben erhielt, da meine Nachbarn stattdessen eine Karte in ihren Farben genommen hatten - dann wurden unsere Decks sowohl deutlich stärker, als auch mana-konstanter, als diejenigen an der anderen Seite des Tisches, wo die Spieler sich in allen Farben munter die Karten vor der Nase wegdrafteten!

Im Rochester Draft war das Signalisieren natürlich viel einfacher - man nahm einfach eine Karte in einer Farbe, die für einen frei war, und der ganze Tisch wusste Bescheid. Im Booster Draft hingegen war das Ganze viel schwieriger - und spicken durfte man ja nicht! (Es ist allerdings, bis hinauf zum Pro Tour Level, trotzdem gemacht worden.) Andere übliche Methoden, die man verwendete, als die Judges bei wichtigen Turnieren langsam begannen, das "Spicken" zu ahnden, waren das auffällige Platzieren von Karten, die der Hintermann draften sollte, zuoberst im Booster - oder sogar kopfüber: Bei Pro Tour London hatte ich extra den Head Judge (Jeff Donais, wenn ich mich recht entsinne) gefragt, ob es erlaubt war, einzelne Karten kopfüber weiterzugeben, um Signale zu geben - und er erlaubte es!! Auf diese Art vertrug ich mich drei Drafts lang blendend mit meinen Nachbarn, bis ich schließlich im entscheidenden Draft am zweiten Tisch um den Einzug in die Top Acht einen Spieler als linken Nachbarn hatte, der die Signale, die ich ihm als völlig unbekannter Spieler gab, standhaft ignorierte, weil er sich vorher mit seinen übrigen Pro Tour Kumpeln bereits abgesprochen hatte, welche Farben sie nehmen würden - mit dem Ergebnis, dass ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder ein dreifarbiges Deck zusammendraftete und damit Null zu Drei ging...

Ach ja, diese Absprachen zwischen nebeneinandersitzenden Spielern gab es natürlich auch schon immer! Sie waren zwar schon immer verboten, aber auch schon immer äußerst schwierig zu unterbinden...

Was tut man nun aber, wenn man ein ehrlicher Spieler ist, und einem diese Vereinfachungen nicht (mehr) zur Verfügung stehen? Heute muss man ja jeden Booster vor dem Weitergeben mischen, damit man dem Nachbarn über die Kartenreihenfolge keine Informationen zukommen lassen kann, und Karten kopfüber weiterzugeben, ist völlig undenkbar! Was das Spicken anlangt, passen Judges heute (hoffentlich!) besser auf als früher, und Absprachen... nun ja, die sind immer noch nicht gut zu unterbinden, werden aber ein wenig dadurch erschwert, dass die genaue Sitzordnung normalerweise erst bekannt gegeben wird, wenn ein Judge die Spieler beobachtet, und dadurch, dass der Inhalt der Boosterpacks und das Draftverhalten der nichteinbezogenen Spieler oft jede Vorausplanung zunichte machen (hoffentlich!)

Man muss also lernen, Signale zu lesen und zu geben! Das ist jedoch eine sehr knifflige Sache. Ich will versuchen, im zweiten Teil dieser Artikelreihe eine gewisse Hilfestellung dazu zu geben. Doch zunächst müssen die dazu erforderlichen Grundlagen geklärt sein: Der Titel dieses Artikels lautet nicht ohne Grund "Booster-Draft für Fortgeschrittene"! Um überhaupt in die Sphäre des Signalisierens vorzudringen, muss man nämlich das elementare Prinzip der Kartenbewertung bereits beherrschen. Dabei kommt einem viel Erfahrung im Sealed Deck (so unattraktiv dieses Format in letzter Zeit auch geworden ist) auf jeden Fall zugute, ja ist vermutlich unverzichtbar - selbst meine dreiteilige, sehr ausführliche Analyse des Onslaught-Sets hier auf PlanetMTG kann eigene Spielerfahrung nicht ersetzen (auch wenn sie hoffentlich eine Hilfe ist!) Ich setze also eine gewisse Erfahrung mit dem Format Sealed voraus, gehe jedoch ausführlich auf einige subtilere Punkte ein.

Kartenbewertung abhängig vom Format

Auch mit der Kartenbewertung ist das nämlich so eine Sache! Das Sideboard hat in seinem Feature "Ask the Pros" fünf Spieler, an deren fachlicher Kompetenz nicht gezweifelt werden kann, Folgendes gefragt:

Question: Rate the top three green commons in Onslaught, in order.

Answers:
Chris Benafel: Krosan Tusker, Snarling Undorak, Wirewood Savage
Trevor Blackwell: Krosan Tusker, Wirewood Savage, Snarling Undorak
Mike Pustilnik: Wirewood Savage, Snarling Undorak, Barkhide Mauler
Neil Reeves: Snarling Undorak, Wirewood Savage, Krosan Tusker
Tony Tsai: Snarling Undorak, Wirewwod Savage, Krosan Tusker



Da fallen zwar immer die gleichen Namen, aber über die Reihenfolge herrscht dann doch Uneinigkeit - woran liegt das?

Einmal an der Art der Fragestellung: Obwohl klar zu sein scheint, dass die Frage sich auf Limited-Formate bezieht, wird nicht zwischen Sealed, Booster Draft und Rochester unterschieden! Diese Formate haben aber einen sehr unterschiedlichen Power-Level, und in ihnen werden Decks auch verschieden konstruiert. Allgemein sind Sealed Decks am langsamsten und Rochester Decks am schnellsten, wobei Sealed Decks am häufigsten ungünstige Manaverteilungen (bezüglich Kurve und Mehrfarbigkeit) haben, und Rochester Decks am seltensten.

Wenn ich davon ausgehe, dass Benafel und Blackwell im Hinblick auf Sealed geantwortet haben, dann kann ich ihre Antwort nachvollziehen - Sealed als das langsamste Format gibt einen am ehesten die Zeit, für drei Mana etwas Kartenvorteil zu machen, oder für sieben Mana einen 6/5er zu spielen, und profitiert auch am häufigsten davon, dass der Tusker einem mehr Farbsicherheit in einem mehrfarbigen Deck verleiht.

Die Antworten von Reeves & Tsai hingegen passen nach meiner Einschätzung am besten zum Boosterdraft, einem deutlich stärker Tempo-orientierten Format als Sealed, in dem Mana-Effizienz beonders wichtig ist.

Pustilnik, der als einziger den Tusker durch den Mauler ersetzt hat, ist vermutlich von Rochester augegangen - nicht nur ist in diesem schnellsten Limited-Format der Tusker noch ein wenig unhandlicher, auch der Savage qualifiziert sich als höherer Pick gegenüber dem Undorak, da im Rochester die Farben der Drafter am schnellsten feststehen und somit genügend Gelegenheiten bleiben werden, die Beasts aufzuschnappen, die den Savage erst so stark machen, während im Boosterdraft das beste Beast erst einmal Priorität hat, da der Savage ohne genügend gute Beasts einfach schwächer ist als das Beast ohne den Savage.

Soviel zu meinen Interpreationen der von den Pros genannten Karten - aber selbst, wenn ich damit richtig liegen sollte, bleibt immer noch der Umstand, dass verschiedene gute Spieler sich TROTZDEM nicht immer einig sein würden, welche Karte denn nun die bessere ist!

Ich bin zum Beispiel zwar kein Pro, aber meine eigene Einschätzung lautet:

Sealed: Snarling Undorak, Wirewood Savage, Krosan Tusker
Booster Draft: Snarling Undorak, Wirewood Savage, Barkhide Mauler
Rochester: Wirewood Savage, Snarling Undorak, Barkhide Mauler (Hier schließe ich mich Pustilnik an - aber da ich noch nie Onslaught Rochester gedraftet habe, ist meine Einschätzung hier auch nicht allzu aussagekräftig.)

Im Wesentlichen bin ich also der Ansicht, dass der Tusker etwas überschätzt wird, da er doch eine sehr langsame Karte ist. Nichtsdestotrotz liegen diese Karten dicht genug beieinander, dass auch deutlich bessere Spieler als ich sich nicht einig sind, und hier ist eigene Spielerfahrung letztlich auschlaggebend. In jedem Fall kann man sich nicht darauf verlassen, dass bei solch knappen Entscheidungen die Draft-Nachbarn die eigene Meinung teilen, und muss daher vorsichtig bei der Interpretation von Picks sein, die man selbst anders getroffen hätte!

Kartenbewertung abhängig vom Deck

Selbst wenn man dorthin gelangt ist, dass man über eine brauchbare Einschätzung aller Karten für das Booster Draft Format verfügt, ist man noch nicht am Ende dieses Lernprozesses angekommen! Welche Karte wie stark ist, hängt natürlich nicht nur von Format allgemein ab, sondern speziell auch von dem Deck, das man draftet bzw. zu draften hofft!

Dabei ist es selbtverständlich, dass ein Piety Charm zum Beispiel in einem Deck mit zehn oder mehr Soldiers eine starke Karte ist, während er in einem Deck mit ein bis zwei Soldiers äußert schwach wäre. Es gibt jedoch deutlich subtilere Fälle:

Welche von den folgenden Karten ist für ein rot-schwarzes Deck die beste: Nantuko Husk, Wretched Anurid oder Severed Legion?

Nun, egal ob Ihr a), b) oder c) getippt habt - Ihr liegt vermutlich falsch! Diese Karten liegen im Powerlevel nahe genug beieinander, dass es unsinnig ist, eine absolute Aussage zu treffen. Entscheidend ist, wie Euer Deck beschaffen ist:

Habt Ihr bereits viele kleine Kreaturen (Goblin Taskmaster, Festering Goblin etc...) und ein paar Finisher ala Dirge of Dread und Wave of Indifference, aber wenig Removal und kaum Fatties? Dann ist der Nantuko Husk die richtige Karte, der einen Fatty ersetzen kann, im Gegensatz zum Anurid mit dem ganzen Kleinzeug GUT zusammenarbeitet, und in einem Standoff mithlife eines der Finisher im Alpha-Strike zum Sieg angreifen kann.



Habt Ihr viel Removal, aber wenige und teure Kreaturen? Dann ist der Wretched Anurid die richtige Wahl, der Euch ermöglicht, früh Druck zu machen, anstatt mit Removal in der Hand Kontrolle zu spielen, und dem Ihr den Weg freischießen könnt.

Hat Eurer Deck eine große Anzahl nicht unbedingt allzu manaeffizienter Kreaturen, ein bisschen Removal und keine guten Finisher? Dann ist die Severed Legion das richtige - eine Evasion-Kreatur, die in einem Standoff Schaden machen kann, während die übrigen Kreaturen den Boden zumacht und das Removal sich um die gegnerischen Evasion-Kreaturen kümmert.

Das war jetzt ein Fall, in dem man sich abhängig von seinem Deck zwischen ungefähr gleich starken Karten entscheidet. Es kommt aber auch vor, dass es sinnvoll ist, eine eigentlich klar schwächere Karte zu nehmen!

Ein Beispiel: Man draftet Rot/Grün und hat das Glück, Grün an seiner Seite des Tisches monopolisiert zu haben (das kann vorkommen!). Man draftet Beast, Beast, Beast... und hat bereits 2 Snarling Undorak, 2 Spitting Gourna, 3 Barkhide Mauler und 2 Krosan Tusker (ja, auch DAS kann passieren!), sowie einen Elvish Warrior und zwei Birchlore Rangers für die Manakurve) In Rot hat man bisher einen Shock, 2 Goblin Taskmaster, einen Sparksmith und einen Dragon Roost. Jetzt kommt ein Boosterpack mit einem weiteren Krosan Tusker, einem Battering Craghorn und einem Taunting Elf. Ungefähr in dieser Reihenfolge sind die Karten auch zu bewerten!...aber nimmt man deswegen einen weiteren Tusker? Nein, das sollte man sich wirklich verkneifen! Das Deck hat eindeutig genügend fette Viecher und eine bereits sehr problematische Manakurve. Was ihm fehlt, ist einmal Removal (leider nicht im Angebot) - und eine weitere Gewinnoption! Wenn der Gegner den Sparksmith in den Griff bekommt oder man ihn nicht zieht (nicht unwahrscheinlich), dann legt dieses Deck Kreaturen bis zum Abwinken - und wenn der Gegner nicht mit einem Haufen Fatties klarkommt, dann verliert er eben. WENN er aber damit klarkommt, dann gerät man vermutlich in einen Standoff und kann nur noch auf seinen Dragon Roost hoffen - und der kann sich ganz unten in der Bibliothek verstecken. Daher nimmt man noch den Taunting Elf ins Deck, der nicht nur eine zusätzliche Gewinnoption in einem Standoff darstellt, sondern unter Umständen auch mit den beiden Birchlore Rangers zusammenarbeiten kann, um die Geschwindigkeit des Decks zu erhöhen (dritte Runde Undorak ist BESSER als vierte Runde Undorak!)



Bei der Einschätzung der Karten muss man also immer auch die Bedürfnisse des Decks vor Augen haben: Manakurve, Mana-Farbverteilung, Gewinnoptionen, Defensive.

Wenn man dieses Prinzip verstanden hat, und in der Lage ist, es auch in der Praxis umzusetzen, dann beherrscht man den Teil des Booster Draft, der dem Bauen eines Sealed Decks entspricht...

...und hat den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht. Ja, die Kartenbewertung ist die GRUNDLAGE kompetenten Draftens - aber der erste Schritt in einem wirklichen Draft ist es nun einmal, herauszufinden, welche Farben man spielt, und DANN das bestmögliche Deck zu draften! Dabei spielt Sicherheit bei der Einschätzung der relativen Stärke der Karten zwar eine wichtige Rolle, aber es kommen noch eine Menge anderer Faktoren hinzu.

Und die bespreche ich dann im zweiten Teil dieser Artikelreihe. Ihr wollt doch schließlich nicht so lange Artikel von mir!

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