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Casual
Über gute und schlechte Casual Players
von Andreas "Zeromant" Pischner
12.11.2007

Nanu, was hat denn der Titel dieses Artikels mit der Reihe "Magic-Decks im Wandel der Zeit" zu tun? Richtig: Gar nichts!

Ich habe beschlossen, Euch und mir eine kleine Pause zu gönnen, damit die Routine nicht in Langeweile mündet. Deswegen unterbreche ich meine historische Betrachtung mit einem Beitrag zum immergrünen Streit Casual Players vs.Turnierspieler! Und wenn ich schon dabei bin, verweigere ich mich dem gutgemeinten, aber sachlich nicht allzu gehaltvollen Kuschelkurs, der für gewöhnlich von Schreibern erwartet wird, so nach dem Motto "Jeder nach seiner Facon".

Ich stelle hiermit folgende These auf: Der Großteil der Casual Players ist der "Mainstream" der Magic Szene – also das, was die Leser der Bild-Zeitung in der Presselandschaft sind, oder die Hörer von DJ Ötzi in der Musikszene. Mit anderen Worten: Ihre Vorlieben werden dadurch bestimmt, dass sie einfach keine Ahnung haben!

Casual Play, so wie es in weiten Teilen der Magic-Spielerschaft praktiziert wird, ist Fast Food. Man kann es essen, aber so richtig schmeckt es niemandem – doch um richtiges Essen zuzubereiten, macht man sich einfach nicht die Mühe. Dafür macht man sich aber über diejenigen lustig, die aufwändig kochen oder gar in richtige Restaurants gehen!

Sind das schon genug hinkende Vergleiche gewesen? Nein? Prima, dann soll gleich noch einer folgen:

Ein paar Kinder spielen auf einer Wiese Fußball. "Aber ohne Schrummen!", ruft eines. ("Schrummen", so wie es in meiner Kindheit in Gebrauch war, bezeichnete kräftige Weitschüsse.) Als ein gegnerischer Spieler einen Schuss an ihm vorbei ins Tor jagt, weigert es sich, den Treffer anzuerkennen. "Das war geschrummt!" Im Gegenzug nutzt es jedoch die Gelegenheit, den Ball von der eigenen Torlinie mit Wucht ins gegnerische Tor zu schießen. "Das ist kein Schrummen, das Tor war ja leer!"

Wenn dieses Kind Magic spielt, dann vermutlich als Casual Player!

Es geht aber auch anders: Ein paar Kinder treffen sich auf einem Sportplatz. Sie sind nur zu viert, und stellen fest, dass es sinnlos ist, das ganze Feld zu nutzen. Eines davon schlägt den anderen deswegen folgende Spielart vor:

Ein Spieler steht im Tor. Die drei anderen spielen zusammen und versuchen, ihn zu überwinden. Dabei dürfen sie nicht den Torraum betreten, und sie dürfen nur aufs Tor schießen, wenn der Ball von allen Spielern mindestens einmal gespielt wurde, und seitdem nicht den Boden berührt hat.

Das Kind erklärt genau, was in dieser Variante (die ich früher unter der Bezeichnung "Hochein" kennen gelernt habe) erlaubt ist und was nicht. Sie spielen sie und stellen fest, dass sie zu viert viel mehr Spaß macht als das "normale" Spiel.

Auch das ist ein Casual Player – aber ein Angehöriger einer Minderheit!

Die große Heuchelei, die mich in der ganzen Casual-Diskussion immer wieder anspringt, ist die Gegenüberstellung von Turnierspiel und "Fun"-Spiel. Sie impliziert, dass Turnierspieler weniger Spaß am Spiel hätten sowie dass Turnierregeln zu weniger Spaß führten. Und genau hier kommt die Ahnungslosigkeit der casual-spielenden Masse ans Licht: Turnierspieler spielen deswegen Turniere, weil ihnen ihr Hobby so viel Spaß macht, dass es ihnen diese zusätzliche Vorbereitung wert ist! Und Turnierregeln sind gemacht worden, damit Magic MEHR Spaß macht, nicht etwa weniger!

Das Format Standard, welches von Casual Players so gerne ignoriert wird ("Wir spielen Typ 1") ist natürlich eine Geldquelle für WotC, da sich Spieler ständig neue Karten kaufen müssen. Was aber offenbar vielen nicht bekannt ist: Standard (damals Typ 2) wurde auf Wunsch der SPIELER eingeführt, die sich lauthals darüber beschwert hatten, dass es nicht möglich war, mit anderen Spielern mitzuhalten, die seit Jahren dabei waren und einen entsprechenden Kartenpool besaßen! Selbst wenn WotC sämtliche Karten jederzeit verfügbar hielte (was sie nicht tun, um den Sammelcharakter des Spieles zu unterstreichen), hätten Neueinsteiger keine Chance gegen Konkurrenten mit Schränken voller Karten. Die Abstufungen Vintage, Legacy, Extended und Standard (das überzüchtete Block Constructed würde ich hier ausnehmen) ermöglichen es, dass Spieler mit vergleichbaren Kartenpools gegeneinander zu fairen Bedingungen antreten können. Darüber hinaus sorgen die Banned-Listen dafür, dass nicht immer nur dieselben Decks und Karten gespielt werden. Natürlich sind weder die Formatdefinitionen noch die Banned-Listen perfekt, aber sie sind auf jeden Fall besser als keine Einschränkungen!

Nur, Casual Players wissen es natürlich besser. An Stelle von klar definierten Vorgaben tritt ein subjektives Empfinden, welche Strategien und Karten Spaß machen und welche nicht. Dabei sind es die Götter der Casual-Runden (ich hoffe, Ihr habt alle Philipp Summereders hervorragenden Artikel "Leitfaden zum Verärgern einer Mehrspielerrunde – nach einer wahren Begebenheit" gelesen!), die ihre Ansichten durchsetzen, oder anders ausgedrückt: Diejenigen Kinder, die am lautesten schreien! Fairness ist nicht in ihrem Interesse, denn damit verlören sie die Möglichkeit, jeweils genau die Bedingungen einzuführen, welche für sie gerade am günstigsten sind. Weswegen aber lässt sich das "Fußvolk" in den Casual-Gruppen diese Willkür gefallen? Nun, ganz simpel: Sie wissen es nicht besser! Sie sind ein Opfer der Propaganda geworden, dass Turnierspieler weniger Spaß hätten, und registrieren dabei nicht so wirklich, dass sie bei ihren Casual-Runden auch keineswegs immer Spaß haben.

Faire Spiele machen mehr Spaß als unfaire Spiele. Das gilt nicht zwingend für jeden einzelnen Spieler, denn unfaire Bedingungen bevorzugen per Definition Einzelne, denen diese priviligierte Stellung möglicherweise besonders viel Spaß macht, aber insgesamt, für alle Beteiligten, bringt Fairness den maximalen Spaß. Witzigerweise habe ich gerade neulich irgendwo in den Kommentaren zu einem Artikel gelesen, Casual bedeute, dass alle Spieler eine faire Chance hätten. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein! Formatfreies Casual ist das genaue Gegenteil fairen Spielens.

Kennt Ihr den Spruch "Anarchie ist machbar, Herr Nachbar"? Sponti at its worst. Anarchie bedeutet, dass es keine verbindlichen Regelungen gibt, keine gefestigten Machtstrukturen, keine garantierten Rechte. Es bedeutet, dass man um alles, was man haben oder behalten will, kämpfen muss, immer wieder, entweder in Diskussionen, durch Vereinbarungen (deren Einhaltung nicht überwacht und somit nicht garantiert ist) oder mit Gewalt. Der Stärkere kann dem Schwächeren alles wegnehmen, aber er muss ständig in Angst leben, dass sich mehrere Schwächere gegen ihn zusammentun.

Kommt Euch das bekannt vor? Richtig: Es ist das Grundkonzept von Free-For-All (auch oft "Chaos" genannt), der Jeder-gegen-jeden-Variante des Multiplayer Magic! Gleichzeitig ist es übrigens auch das Prinzip, nach dem in einer Casual-Umgebung ungeschriebene Regeln entstehen. Wenn die meisten Spieler Discard verabscheuen, darf kein Discard gespielt werden. Wenn der Gott der Runde entscheidet, dass Sliver eine unfaire Strategie seien (vielleicht, weil er immer dagegen verliert), dann wird er sich damit wohl durchsetzen.

Alle Gesetze der Welt haben ihren Ursprung letztlich in zwei Wurzeln: Den Schwachen vor dem Starken zu schützen, und den Starken davor zu schützen, dass sich Schwache gegen ihn zusammentun. Eine Welt ohne Gesetze setzt diese beiden Prinzipien außer Kraft. Wollt Ihr Anarchie in Aktion sehen? (In der richtigen Welt, nicht in einer FFA-Runde?) Schaut auf dem Spielplatz einer Gruppe Kinder zu, wie sie entscheiden, was sie spielen wollen, und wer welche Rolle übernimmt. Einige Wortführer setzen sich durch, und nur wenn sie etwas tun wollen, was der Großteil der Gruppe absolut nicht will, werden sie überstimmt.

Oder wisst Ihr was: Geht nicht auf den Spielplatz, sondern in die Bezirksgruppensitzung einer Partei! Das Prinzip ist genau das Gleiche. Wenn Ihr Nachrichten aufmerksam verfolgt, erkennt ihr die selben Prozesse auch auf höheren politischen Ebenen. Politik ist das Spiel "Jeder gegen jeden", und es dreht sich um Bündnisse, Mehrheitsbeschaffung, Machtdemonstrationen, Intrigen und Verrat. Vordergründig geht es zwar um Sachthemen, aber heute macht sich hoffentlich niemand mehr Illusionen darüber, dass sachliche Argumente in der Politik mehr sind als bestenfalls ein Mittel zum Zweck.

Womit wir wieder beim Free-For-All wären. Richard Garfield hat in seiner Duelist-Kolumne "Lost in the Shuffle" einige wirklich exzellente Artikel verfasst, und einer davon befasste sich mit dieser Spielform. Sein Resummee war: Das eigentliche Spiel Magic tritt hier gegenüber den politischen Elementen in den Hintergrund, und FFA wurde dadurch zum gleichen Spiel wie zum Beispiel Junta oder Risiko – und auf dieses Spiel hatte er keine Lust mehr!

Gesetze sind per Staatsgewalt durchgesetzte Regelungen, welche verhindern, dass die von ihnen geregelten Abläufe nach dem Prinzip der Anarchie funktionieren. Sie schaffen im Idealfall einen Bereich, in dem "Rechtssicherheit" besteht, in dem jedem Beteiligten klar ist, was erlaubt ist und was nicht, und welche Konsequenzen welches Handeln hat.

Turnierregeln und Formatdefinitionen leisten das Gleiche für Magic: Sie verhindern, dass es zu dem generischen politischen Spiel des Lebens degeneriert, in dem derjenige Recht hat, der am lautesten schreit. Sie sorgen dafür, dass man tatsächlich Magic spielt, und nicht wieder einmal Politik betreibt.

Das fußballspielende Kind, welches die Definition von "Schrummen" jeweils seinen Bedürfnissen anpasst, betreibt Politik. Je stärker diese Art von Politik Einfluss auf das Spiel nimmt, desto weniger wird der Ausgang des Spiels vom Fußball bestimmt. "Kopfballtore gelten nicht, Ihr seid viel größer als wir!" "Das war kein Foul, im Kampf um den Ball darf man den anderen festhalten!" Wenn einzelne Situationen nicht nach vorgegebenen Regeln entschieden werden, sondern von Fall zu Fall durch Gruppendynamik, dann verschaffen sich die geschickteren Politiker Vorteile.

Casual Players haben da bei Magic eine Vielzahl von Möglichkeiten, Willkür walten zu lassen. Eine bestimmte Karte, eine bestimmte Strategie, ein bestimmtes Deck sind zu stark? Wann nimmt man die Regeln ganz genau und wann nicht? Welche Spielaktionen gelten als "cheesy" oder "lame" und werden von der Gruppe sanktioniert? Kein Wunder, dass sich keine zwei Spielgruppen auf eine gemeinsame Defnition von Casual einigen können! Wann immer die fest vorgegebenen Regeln des Turnier-Magic ersatzlos gestrichen werden, regiert die Willkür.

Nun habe ich aber genug auf "schlechten" Casual Players herumgehackt – jetzt will ich dazu kommen, die "guten" zu loben! Erinnert Ihr Euch noch an das Kind, welches den anderen die Variante "Hochein" erklärt hat? So etwas gibt es auch bei Magic-Spielern! Dabei ist folgendes Schema zu erkennen:

1. Man kennt die eigentlichen Spielregeln, und versteht ihren Sinn.
2. Man kommt zu dem Schluss, dass diese Regeln für die eigene Spielgruppe nicht geeignet sind – oder auch, dass man einfach einmal etwas anderes ausprobieren will.
3. Man ersetzt und ergänzt Regeln, die man außer Kraft setzt, durch selbstgemachte, klar definierte Regeln, um auch in der eigenen Variante Fairness zu garantieren!


Alle DCI-Regelungen
sind mit dem Primärziel
geschaffen worden,
maximalen Spielspaß
zu garantieren...

"Gute" Casual Players schreiben ihren Mitspielern nicht vor, nur "Fundecks" zu spielen, ohne genau festzulegen, was das bedeutet. Sie legen Regeln fest und erlauben es allen, diese Regeln auszureizen – und wenn sie dann feststellen, dass der erhoffte Spaß ausbleibt, ändern sie diese Regeln eben, aber nicht spontan, sondern zum nächsten Treffen. Mit anderen Worten, sie machen es genau so wie die DCI! Ich will hier noch einmal daran erinnern: Alle DCI-Regelungen sind mit dem Primärziel geschaffen worden, maximalen Spielspaß zu garantieren!

Solche privaten Regelungen können verschiedenerlei Gestalt annehmen. Eigene Banned-Listen sind eine Möglichkeit, aber häufiger sind veränderte Deckbauregeln, so wie bei ABC-Magic, oder zum Beispiel auch ein Format, in dem alle Karten vom selben Künstler gezeichnet sein müssen. Weiterhin gibt es eine Vielzahl Varianten um zu beschreiben, wer wen angreifen darf etc... Worauf es hinausläuft: Man schafft sich eigene Formate, nämlich Casual-Formate im Gegensatz zu sanktionierten Formaten!

Ich glaube, dass sämtliche DCI-sanktionierten Formate ihren Ursprung im Casual besitzen. Standard ist entstanden, weil einige neuere Spieler die alten Power-Editionen boykottierten. Sealed Deck war eine Möglichkeit für Spieler mit großem Kartenpool, zu fairen Bedingungen gegen Neulinge anzutreten. Booster Draft und Rochester Draft sind aus innovativen Ideen einzelner Spielgruppen entstanden. Das jüngste RL-Format, Two-Headed Giant, besitzt eine lange Casual-Geschichte. Auf Magic Online kann man Singleton (Highlander), Tribal, Rainbow Stairwell und Emperor spielen – alles ehemalige Casual-Formate!

Und ich glaube noch etwas: Nämlich, dass sämtliche bekannten Formate, egal ob unterdessen sanktioniert oder noch nicht (wie z.B. ABC-Magic und Elder Dragon Highlander) von Turnierspielern erfunden wurden! Das schließt solche, die es bei sanktionierten Turnieren versucht und festgestellt haben, dass ihnen das aus verschiedenen Gründen keinen Spaß machte, ebenso ein wie regelmäßige Turnierspieler, die auf der Suche nach Abwechslung waren. Ihnen gemeinsam ist, dass sie den Sinn und die Notwendigkeit feststehender Regeln erkannt haben.

Sanktionierte Turnierformate sind insgesamt hervorragend ausgereift und machen auch Spaß, aber sie können natürlich nicht die Bedürfnisse aller Spieler und Spielgruppen befriedigen. Deswegen ist es oft absolut sinnvoll, auf ein Casual-Format auszuweichen oder sich ein eigenes auszudenken! Wenn die Pools der Spieler einfach zu unterschiedlich sind, kann man über Handicaps nachdenken, oder Spieler paarweise Decks bauen lassen, die zum gegeneinander Spielen gedacht sind, oder Limited-Formate probieren. Für unhandliche Gruppengrößen lässt sich fast immer eine geeignete Spielform finden. Meine Hochachtung gilt denjenigen Casual Players, welche eigene Formate kreieren und ausbalancieren, und welche Lösungen für die Probleme bekannter Formate (wie z.B. Emperor) suchen!

Wenn ich hingegen wieder einmal höre, dass "jeder gegen jeden, Typ 1, aber nur Fun-Decks" gespielt werden soll, dann weiß ich, dass die Bild-Leser unter den Magic-Spielern zu Gange sind. Haben Bild-Leser wirklich mehr Spaß? Nein – sie haben nur weniger Ahnung! Wer sich die Zeit nimmt, sich mit seriöseren Zeitungen zu beschäftigen, wird feststellen, dass er nach einer gewissen Eingewöhnugszeit sowohl mehr Information als auch mehr Unterhaltung aus ihnen ziehen kann. So ist es auch mit klar definierten Formaten: Zunächst bereitet es etwas Mühe, sich darauf einzustellen, aber bald wird man durch mehr Magic-Gehalt und dadurch auch größeren Spielspaß belohnt.
Die "Front" in der
Magic-Szene verläuft
nicht zwischen Turnier-
und Fun-Spielern –
sie verläuft zwischen
denen, die wissen wie
dieses Spiel funktioniert,
und denen, die es nicht
wissen...

Die "Front" in der Magic-Szene verläuft nicht zwischen Turnierspielern und Fun-Spielern; sie verläuft zwischen Spielern, die wissen, wie dieses Spiel funktioniert und Spielern, die es nicht wissen. Magic ist ein Wettbewerbsspiel, und wie alle Wettbewerbe funktioniert es nur mit klar definierten Regeln und fairen Chancen für alle Teilnehmer richtig.

Anarchie ist machbar, aber bestimmt kein Fun, Herr Nachbar!

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