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Eine Hasstirade
von Andreas "Zeromant" Pischner
12.02.2002

Das Weihnachtsgeschäft ist vorbei, und im krassen Gegensatz zum letzten Jahr habe ich diesmal keinerlei Zweifel mehr daran, dass der schon mehrmals totgesagte Pokemon-Sammelkartenspiel-Boom diesmal wirklich und endgültig vorbei ist.

Endlich.

Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie froh ich darüber bin - ich habe es versucht, aber keine Formulierung, keine Anhäufung von Ausrufezeichen und keine Schriftgröße kann meine Freude darüber zum Ausdruck bringen.

Ich jobbe in einem Spieleladen und kann nicht leugnen, dass Pokemon dem Geschäft, in dem ich arbeite, erhebliche Mehrumsätze beschert hat, von denen ich indirekt durchaus auch profitiert habe. Trotzdem bin ich nichts weniger als glücklich, dass es damit nun vorbei ist.

Denn ich HASSE dieses Scheißspiel. Ich verabscheue es mit jeder Faser meines Herzens - nicht weniger, als ich die Drahtzieher von Terroranschlägen oder die Mörder und Vergewaltiger von Kindern verabscheue. Und das ist eine MENGE Hass.

Wie hat es dieses alberne kleine Kartenspiel nur geschafft, in mir einen solchen Hass hervorzurufen?

Die Antwort ist: Es ist liegt nicht am Kartenspiel.

Es sind nicht die dämlichen, unausgewogenen Spielmechaniken, die sich hinter ständigen, unsinnigen Münzwürfen zu verbergen versuchen., die ich hasse. Es sind auch nicht die drittklassigen Abbildungen schwachsinnig dreinblickender Mini-Monster mit idiotischen Namen wie Pipi, Kaka und Kotzrotz, die ich hasse. Und es sind nicht einmal die unerträglichen Fernsehsendungen mit drei verschiedenen Bildern pro Minute, Dialogen, die das Gestammel eines Zweijährigen intelligent erscheinen lassen, und der völligen Abwesenheit von allem, was man mit einer Handlung verwechseln könnte, die ich hasse.

Mein Hass gilt dem, was Pokemon wirklich ist: Ein Werbefeldzug.

Pokemon ist nicht das erste Beispiel dafür, dass ein miserables Produkt allein durch ungeheuren Werbedruck Erfolg hat. Ein Blick auf die Musik-Charts der letzten zehn Jahre zeigt genügend weitere Fälle.

Aber noch nie zuvor habe ich eine Werbestrategie bemerkt, die so massiv, kompromisslos und offensichtlich auf Kinder ab dem Vorschulalter zielt.

Wie oft sind Kinder in unseren Laden gekommen, die kaum bis zu unserem Tresen reichten, Geld in den Händen hielten, dessen Wert sie nicht kannten, und schwer verständliche Worte stammelten, aus denen nur "Pokemon" herauszuhören war? Ich habe Kinder gesehen, die noch nicht LAUFEN konnten, aber auf dem Arm ihrer Eltern so lange geschrien und geweint haben, bis sie endlich einen Booster geschenkt bekamen. Ich kann mich an einen Jungen erinnern, der vielleicht zehn Jahre alt war, und für fünfzig Mark Pokemon-Booster zu kaufen pflegte. ZWEIMAL PRO WOCHE. Und das waren nur die Tage, an denen ich da war!

Ich habe Kinder gesehen, die mit Hundertmarkscheinen Booster bezahlt haben, und das Wechselgeld nicht ausrechnen konnten, obwohl unsere Booster damals (als Folge einer Fehlbestellung) genau fünf D-Mark kosteten. Ich kann mich an Kinder erinnern, die schreiend und heulend darauf bestanden haben, anstelle normaler Booster-Packungen LIMITIERTE gekauft zu bekommen, die dreimal so teuer waren - und die nicht einmal wussten, wie man auf den Karten den Unterschied erkennt! Ich habe Kinder gesehen, deren Eltern ihnen für Fünfzig Mark Booster gekauft haben, und die diese Booster vor ihren Augen geöffnet und die Karten darin weggeschmissen haben, weil keine "Holo" darin war. Ich habe eine Mutter gesehen, die den Tränen nahe war, weil sie ihrem Kind zu Weihnachten einen LIMITIERTEN "Glurak" versprochen hatte, unser letztes Exemplar aber bereits für Hundertzwanzig Mark verkauft war. Ich habe mit mehreren Kindern gesprochen, die von älteren Mitschülern verprügelt wurden, damit sie ihre Karten abgaben. Einer unserer regelmäßigen Magic-Turnierteilnehmer spielte nach eigener Aussage nur Pokemon, um Kiddies "abzuzocken" - er erhielt Ladenverbot, nachdem er zugegeben hatte, Kindern gedroht zu haben, seine Zigaretten auf ihrer Haut auszudrücken, wenn sie ihm ihre Karten nicht geben.

Reicht das? Ich könnte seitenweise weiterschreiben, aber wer bis jetzt noch nicht begriffen hat, warum ich Pokemon hasse, der wird es auch nicht mehr begreifen.

In einem islamischen Land - ich glaube, es war Saudi-Arabien, aber ich bin mir nicht sicher - ist der Verkauf von Pokemon verboten worden, weil es Teufelswerk ist. In manchen amerikanischen Städten ebenfalls, und Moralapostel in aller Welt fordern es.

Natürlich sind das extreme Fälle von religiösem Fanatismus - etwas, was ich genauso hasse, wie die weiter oben genannten Dinge-, und in jedem Fall ist es höchst bedenklich, wenn eine Regierung in dieser Weise reagiert. Aber in diesem Fall haben sie zufällig recht: Pokemon IST das Böse schlechthin.

Ihr haltet das für übertrieben? Ihr haltet eine strategisch geplante, mit Milliarden Dollar unterstützte gezielte Gehirnwäsche unserer Kinder nicht für abgrundtief böse? Was ist schon so schlimm daran, wenn Kindern die Botschaft "Sammle sie alle!" ins Unterbewusstsein implantiert wird?

Wie wäre es dann damit:

"Töten ist gut! Gott will, dass Du tötest! Für jeden Juden, den Du tötest, wird im Paradies eine Jungfrau auf Dich warten!"

Oder damit:

"Schwarze sind keine Menschen! Sie sind Tiere, dumm und arbeitsscheu, und sie haben keine Seele!"

Oder damit:

"Frauen sind von Geburt an schlecht und schuldig! Eine Frau kann die Sünde, die sie in sich trägt, nur büßen, indem sie dem Mann in Allem gehorsam ist!"

Habt Ihr einmal darüber nachgedacht, wie es möglich ist, dass selbst heute noch Menschen so etwas glauben können? Ganz einfach: Man erzählt es ihnen bereits in ihrer frühesten Kindheit. Immer und immer wieder.

Kinder können gar nicht anders als das, was ihnen so nachdrücklich erzählt wird, als Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Sie haben keine alternative Perspektive. Selbst wenn sie älter werden, messen sie alle neuen Informationen an ihrem bereits fest etablierten Weltbild. Das, was man seit seiner Kindheit für wahr gehalten hat, in Frage zu stellen, ist für viele einfach unmöglich. Das ist der Grund, warum es hochintelligente Fanatiker gibt: Sie begreifen "normale" Ansichten in argumentativer Weise, benutzen aber ihren Intellekt dazu, sie als Lügengebilde zu erklären.

Während es aber bei ideologischen und religiösen Parolen oft gerade auch die Eltern sind, welche ihren Kindern die Ansichten, mit denen sie selbst aufgewachsen sind, einimpfen, ist eine Werbestrategie wie Pokemon so überwältigend, dass selbst die Bemühungen der Eltern, sich dagegen zu wehren, meist vergebens sind.

Oh, sie haben es versucht...

"Du spielst doch gar nicht mit Deinen Karten, kauf' doch lieber etwas, womit Du spielen willst."

"Was willst Du denn mit japanischen Karten, Du kannst die doch gar nicht lesen?"

"Kauf' doch lieber Magic/Harry Potter/Mage Knight, das ist ein viel besseres Spiel, das macht Dir auch in zwei Jahren noch Spaß!"

Was sind solche Argumente schon gegen den Meinugsdruck, dem ein Kind vor dem Fernseher und in seiner Schulklasse/Kindergartengruppe ausgesetzt ist?

Natürlich bleibt es nicht dabei. Ich bin nicht so naiv anzunehmen, dass mit dem Dahinscheiden von Pokemon dieses Prinzip untergeht.

"Wasch Dich mit Clearasil, sonst findest Du keine Freundin!"

"Trage Schuhe von Nike, sonst lachen Deine Kumpel Dich aus!"

"Rauche West, sonst bist Du nicht normal!"

"Investiere in Fonds der Commerzbank, sonst bleibst Du arm!"

In den letzten Jahren tendiert Werbung immer mehr dazu, über mehr oder weniger versteckte Drohungen zu funktionieren. Ich verabscheue auch diese Art Werbung.

Der Konsumdruck ist fester Bestandteil unserer Gesellschaft geworden. Vor fünfzehn Jahren hätte ich es für undenkbar gehalten, dass ich Spiele wie Magic oder Harry Potter spielen würde, die darauf basieren, mich immer wieder zum Nachkaufen anzuregen. Auch heute habe ich immer noch ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Aber ich sehe ein, dass solche Spiele ohne den immer wiederkehrenden Verkauf nicht existieren könnten. In diesen Fällen sehe ich auch, dass WotC viel Geld in die Entwicklung steckt, so dass intelligente und unterhaltsame Spiele entstehen. Und hier richtet sich die Werbung auch nicht bereits an Kinder im Kindergartenalter, sondern an Kinder, die bereits lesen, rechnen und - in gewissem Maß - selbständig denken können, und die diese Spiele spielen, weil sie ihnen gefallen.

Bei Pokemon ist das nicht der Fall. Hier steckte das gesamte Geld in der Lizenz und in der Werbung, und die Kinder kauften es nicht in erster Linie, um zu spielen (wenn sie es überhaupt spielten - die meisten sammelten nur!), sondern weil es JEDER tat. Es war ein Verdummungsvirus, der unsere Kinder befallen hatte, und von dem noch nicht alle wieder genesen sind.

Ich habe neulich eine türkische Mitbürgerin mittleren Alters in der U-Bahn gesehen, die mit verwirrtem Gesicht unter ihrem Kopftuch auf einen Zettel starrte, auf dem in großen, ungeübten Buchstaben "DREGENboll" geschrieben war. Wir verkaufen Dragonball nicht (das macht unser Partnerladen eine Treppe höher), und ich kenne es nicht, aber ich befürchte das Schlimmste - die Altersstruktur scheint dieselbe zu sein wie bei Pokemon, und die meisten Spieler werfen mit ihrem Verhalten dieselbe Frage auf: Spielen es hauptsächlich dumme Kinder, oder macht das Spiel sie dumm? Wenigstens scheint es nicht entfernt so erfolgreich zu sein, wie Pokemon es einmal war.

WAR. Das tut gut zu schreiben! Oh, ich bin ja so froh, dass es endlich vorbei ist...

Ich weiß, die Probleme unserer Gesellschaft lösen sich nicht durch den Niedergang von Pokemon. Trotzdem ist es ein Schritt in die richtige Richtung! Und wenn es eines Tages soweit sein sollte, dass der letzte endlich erwachsen gewordene ehemalige Pokemon-Spieler seine Karten voller Scham und Selbstverachtung verbrennt, werde ich in der Asche tanzen!

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