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Grabbeltischmanieren
von Tobias "TobiH" Henke
22.02.2010

Es ist mal wieder so weit. Ich habe kein Thema, über das ich schreiben könnte.

Stattdessen viele kleine.

#1) Wahlergebnis


Zunächst einmal wären zwei Abstimmungsergebnisse von letzter Woche nachzureichen. Ich hatte gefragt, ob Treetop Village eine Marke bekommt, wenn man es ausspielt, aktiviert und die entsprechende Fähigkeit von Oran-Rief, the Vastwood einsetzt; alles im selben Zug, versteht sich.



Und während die Information, wie viel Regelwissen beziehungsweise -Verständnis man bei seinen Lesern voraussetzen darf, eigentlich durchaus relevant ist, ging es hierbei vor allem um den Spaß an und für sich. Ich für meinen Teil finde es nämlich in der Tat witzig, dass sich 351 Menschen ganz sicher sind, aber nur 374 die richtige Antwort kennen. Das eine ist zwar mehr als das andere, allerdings muss man davon ausgehen, dass auch ein Teil der selbstdeklarierten blinden Hühner per Zufall das Körnchen Wahrheit fand. Bei einem Test mit jeweils vier Antwortmöglichkeiten, ergibt eine Trefferquote von 25% ja nicht umsonst null Punkte.

#2) Eternal-Schreiber


Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie unglaublich froh ich bin, dass Pascal Baatz und Arne Fricke absolut atypische Legacy-Autoren sind. Beide haben nämlich nicht nur Ahnung von ihrer Materie, sondern schreiben auch wunderbar. Das ist gerade im Eternal-Bereich alles andere als normal, wie ich aus leidvoller Erfahrung zu berichten weiß. Die meisten legen sich vielmehr richtig ins Zeug, damit ihre Texte möglichst unverständlich und zäh werden. Hier das How-not-to:

Erstens, Decknamen müssen maximal kryptisch sein. „Golden Grahams“ ist ganz toll, „Bant-Survival“ hingegen kann bloß als peinlicher Ausrutscher gelten. Viel zu selbsterklärend. Da könnten ja noch Uneingeweihte herkommen und einfach so verstehen, wovon überhaupt die Rede ist. Das will natürlich niemand, das gilt es um jeden Preis zu vermeiden. Im Zweifelsfall hilft es übrigens immer, ein Deck nach einer Karte zu benennen, die nicht enthalten ist. „No-Leviathan“ beispielsweise ist eine ausgezeichnete Alternative zu der reichlich langweiligen Bezeichnung „Monored Burn“. Immerhin garantiert kein Leviathan drin. Und wenn ihr auf ein Turnier fahrt und eure unleserlich geschriebene Deckliste abgebt, sind eurer Kreativität endgültig keine Grenzen mehr gesetzt. Ihr könnt für euren Decktitel sogar, als besondere Ehrung, eine Verwarnung wegen unsportlichen Verhaltens bekommen. Das ist eine Fähigkeit, die nur Eternal-Spieler besitzen!

Zweitens ist es immens wichtig, zu erklären, was die Karten im Deck eigentlich machen, sprich: den Regeltext jeder einzelnen Karte abzuschreiben und umzuformulieren. Vor allem der Standardländer. Die sind so selten in den Eternal-Formaten, die kann man unmöglich als bekannt voraussetzen. Zumal heutzutage ja noch nicht einmal draufsteht, dass man sie für Mana tappen darf.

Drittens muss alles unbedingt in tabellarische Form gefasst werden. Große Zwischenüberschrift Cardchoices, kleine Zwischenüberschrift Karte 1, ein Satz zu Karte 1, Zwischenüberschrift Karte 2, ein Satz zu Karte 2... große Zwischenüberschrift Matchups, kleine Zwischenüberschrift Threshold 70%... und so weiter und so fort. Höchstens einmal in der Einleitung dürfen drei zusammenhängende Sätze am Stück stehen. Am besten ist es sowieso, wenn ein Artikel ebenso viele Absatzmarken wie Sätze enthält. Dann hat man alles richtig gemacht.

Viertens und letztens, Karten- und Decknamen gehören grundsätzlich abgekürzt. Wer nicht mindestens weiß, was TS, CoV, AV, TTaPV, B2B, StP, D&T, ANT und VG bedeuten, der hat gar nicht erst das Recht dazu, die geheiligten Worte Buchstabenkombinationen durch sein Leseverständnis zu besudeln.

Das sind sie also, die vier Punkte, die man beachten muss, um einen typischen Primer zu schreiben, jene Textform, die sich vor allem im Eternal-Bereich ausgebreitet hat wie ein besonders ambitionierter Ölteppich. Zwar gibt es löbliche Ausnahmen, prima Primer, nach deren Lektüre man surpremestens geprimet ist – aber: keine Ausnahme ohne Regel! Mit der Qualität von Primern hat sich Andreas Pischner neulich schon in seinem Blog auseinandergesetzt und die Frage nach den Ursachen gestellt. Die ist meiner Meinung nach wirklich interessant, auch wenn Andreas' unbefriedigende Antwort darauf selbstverständlich lautet: Ja, die Eternal-Spieler, die sind eben alle blöd. Ich denke, es liegt dann doch eher daran, dass diese Formate viel zu lange von allen großen Internetseiten ignoriert wurden und dass jahrelang sämtlicher Austausch innerhalb der Spielerschaft beinah ausschließlich über Foren lief. Eine ganze Generation an Eternal-Spielern ist offenbar massiv forengeschädigt! Deshalb bekomme ich heute immer noch hin und wieder Artikel zugeschickt, die den Charme eines durchschnittlichen Foren-Posts haben.

Ach ja, wusstet ihr, dass BS die Abkürzung für Brainstorm ist?! Das erinnert mich jedes Mal an eins der schönsten Zitate aus The Odd Couple:

I can't take it anymore, Felix, I'm cracking up. Everything you do irritates me. And when you're not here, the things I know you're gonna do when you come in irritate me. You leave me little notes on my pillow. Told you 158 times I can't stand little notes on my pillow. "We're all out of cornflakes. F.U." Took me three hours to figure out F.U. was Felix Ungar!

#3) Schulfrei?


Vor ein paar Wochen wurde im Forum gefragt, ob jemand Erfahrungen damit habe, sich für ein Magic-Turnier vom Schulunterricht befreien zu lassen. Nun denn, es war 2004 und ich hatte mich nach unzähligen Versuchen zum ersten Mal für eine Pro Tour qualifiziert. Außerdem, nach nicht ganz so vielen Versuchen, zum ersten Mal für eine Abiturprüfung. Offensichtlich überschnitt sich beides. Also ging ich zu meinem Direktor... Vielleicht sollte ich erwähnen, dass mein Direktor gleichzeitig Lehrer meines Mathe-LKs war und ich dort eins stand. Das hat eventuell Einfluss auf Verlauf und Ergebnis unserer Unterhaltung genommen:

Ich: Ich wollte mal fragen nach der Möglichkeit einer Schulbefreiung.
Direktor: [setzt eine strenge Miene auf]
Ich: Und zwar gibt es da dieses Kartenspiel, was in mehreren Ländern als Denksportart anerkannt ist, und ich habe bei einem Qualifikationsturnier am vergangenen Wochenende einen Flug ans andere Ende der Welt, nach Japan, gewonnen, zu einem großen Turnier, bei dem sich Spieler aus über zwanzig Nationen zum gemeinsamen Wettkampf treffen und um eine Viertelmillion – Dollar, nicht Yen – in Preisgeldern spielen. Und nun ja, ich würde ganz gerne für Deutschland an den Start gehen.
Direktor: Oh, Glückwunsch. Ich denke, darüber lässt sich reden. Was ist denn das für ein Spiel?
Ich: Es heißt Magic: The Gathering und ist ein Fantasy-Sammelkarten-Spiel...
Direktor: [guckt höchst skeptisch]
Ich: ...aber alles sehr mathematisch. Vor allem geht's um Ressourcenmanagement und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Es wurde auch von einem amerikanischen Mathematik-Professor erfunden.
Direktor: Ach. Von wem denn?
Ich: Richard Garfield—
Direktor: Garfield? Von dem habe ich mal was gelesen!

Und nein, er meinte tatsächlich keinen Garfield-Comic, sondern eine wissenschaftliche Arbeit von dem Richard Garfield, PhD. Ich weiß gar nicht mehr, ob ich noch den Sonderpreis der MENSA angeführt oder die New York Times zitiert habe, die sinngemäß einmal schrieb, „jeder sollte dieses Spiel spielen, um seine Gedächtnisleistung und sein Denkvermögen zu trainieren“. Jedenfalls musste ich noch ein schriftliches Gesuch einreichen und bekam den Urlaub anstandslos bewilligt.

Freilich könnte man mir vorwerfen, dass ich ein paar Dinge beschönigt hätte. Wettkampf der Nationen findet bei einer normalen Pro Tour schließlich gar nicht als solcher statt, den weitverbreiten Aberglauben an das Herz der Karten lässt man ebenfalls besser aus, und dass die Herstellerfirma mit ein wenig Pappe – sowie der süchtig machenden Tinte! – so viel Geld verdient, dass sie die Viertelmillion schlicht aus ihrem Werbeetat schöpft, das muss eigentlich auch niemand wissen. Und das will auch niemand wissen. Ein Außenstehender stellt sich andere Fragen.

Aber von arglistiger Täuschung oder böswilliger Falschaussage keine Spur! Lügen war gar nicht nötig. Das lag daran, dass ein relevanter Teil des Magic-Marketings bis dato darauf ausgelegt gewesen war, einem Argumente an die Hand zu geben, um seinem Mathelehrer-Direktor erklären zu können, warum man schulfrei für die Pro Tour in Japan braucht.

Versucht es stattdessen mal mit „YOU are a Planeswalker!“ oder „Here I Rule“.

#4) Bildungsauftrag ade


Allerdings ist es nicht bloß das Marketing, was einen anderen Weg eingeschlagen hat. Ebenso nimmt das Spiel selbst einen neuen Kurs. Ihr solltet diesen Artikel von Tom LaPille, offizielles Sprachrohr der Magic-Entwicklungsabteilung, gelesen haben, in dem er die vorübergehende Schwäche von Blau und den historischen Tiefstand von Gegenzauberei behandelt. Ein Absatz ist besonders erhellend.

We've done a lot of research, both in focus testing and in the field, and we have learned that people really hate it when their spells get countered. They take it as a personal affront: my opponent kept me from doing what I want to do. That's a terrible feeling. Mysteriously, those people do not feel nearly as bad when they cast a creature that immediately dies to a Lightning Bolt or a Doom Blade. They feel like their card actually did something, even though it really did just as little as the creature that got hit with an Essence Scatter. This may not make logical sense, but it is consistent with all of our observations.

Auf Deutsch:

Liebe Mehrheit aller Magic-Spieler – ihr seid einfach zu dumm. Wir haben jahrelang versucht, es euch beizubringen, doch jetzt geben wir auf. Liebe Minderheit aller Magic-Spieler, es tut uns aufrichtig leid, aber ihr habt verloren. Und die Mehrheit... die hat auch verloren.

Wenn früher jemand zu dumm war, Gegenzauber zu umspielen, dann war er eben einfach zu dumm. Und hat verloren. Und hat es vielleicht irgendwann gelernt. Heute macht man Cascade, hat mehr oder weniger Glück, gewinnt im einen Fall und verliert im anderen und lernt überhaupt nichts.

#5) Pferdewechsel

Bis hierher habt ihr alles aufmerksam gelesen? Gut, dann steigen wir jetzt nämlich von unserem hohen Ross herunter, gehen noch ein wenig tiefer und befassen uns mit ein paar dreckigen Wahrheiten, die normalerweise im Matsch liegend mit Füßen getrampelt werden:


Eine Werbekampagne, die sich an all diejenigen richtet, die ihrem Mathelehrer erklären müssen, warum sie schulfrei für die Pro Tour in Japan brauchen, hat eine deutlich zu kleine Zielgruppe.


Jeder von uns wurde einmal angefixt, indem er einen Spieler, den er eigentlich nicht hätte besiegen sollen, mit Glück geschlagen hat. Auch wenn es uns damals kaum so vorgekommen ist.


Wenn man sich mit der menschlichen Natur anlegt, gewinnt die menschliche Natur.


Ein Spiel muss in erster Linie Spaß machen. Bei einem Spiel, das keinen Spaß macht, lernt man erst recht nichts, denn das zockt man nicht.


Magic kann einem immer noch verdammt viel beibringen.


Wizards fahren eine ziemlich offene Informationspolitik. Sie sagen genau, was sie tun, wie sie es tun und warum sie es tun. (Und wie Winston Smith vor O'Brien können wir rein gar nichts dagegen unternehmen.)

#6) Feindbilder


Magic lebt von Abgrenzung. Zunächst einmal sind alle Magic-Spieler sowieso sozial ausgegrenzte Nerds, nicht wahr? Das funktioniert natürlich genauso andersherum: Magic-Spieler sind schlaue Leute, die sich durch ihr intelligentes Hobby von der Allgemeinheit abheben. An dieser Stelle könnte Schluss sein mit der Abgrenzung, doch das ist es nicht. Funspieler grenzen sich von Turnierspielern ab, Constructed- von Eternal-Spielern, Blauhasser von Blaufreunden und so weiter.

Magic ist bereits an und für sich ein reichlich elitärer Zeitvertreib. So sehr, dass schätzungsweise ein Drittel der Menschheit nicht einmal in der Lage sein dürfte, die grundlegenden Regeln zu verstehen, und ein weiteres Drittel, wenn man akzeptiert, dass nicht wollen und nicht können meist ein und dasselbe sind. Aber selbst innerhalb einer Elite bilden sich weitere Eliten. Ironischerweise will man der Elite angehören oder verteufelt sie – oder sogar beides zugleich. Ihr kennt die Stereotypen alle: Die guten Spieler, die jedoch hochnäsig sind und deshalb schlechtere Menschen. Oder die ambitionierten Spieler, die bei ihrem verbissenen Wettkampf bestimmt überhaupt keinen Spaß haben. Oder eben die verhassten Blauspieler, die nichts anderes können, als zu countern und Karten zu ziehen, und das ist ja nun wirklich nicht besonders anspruchsvoll.


Es gibt keine andere Farbe, die dermaßen unbeliebt ist, wie Blau. Freilich liegt das daran, dass Blau über lange Zeit schlicht die beste Farbe war, mit überstarken Einzelkarten und vor allem mit jenen Teilen des Color-Wheels gesegnet, die sich im ständigen Abtausch von Ressourcen als besonders effektiv erwiesen. Doch das ist bloß die halbe Geschichte. Blau taugt nicht zuletzt auch deshalb so gut zum Feindbild, weil die gesamte thematische Ausrichtung, all sein Flair darauf abzielt. Nein, der blaue Magier macht sich nicht die Hände schmutzig, begibt sich nicht auf das Niveau des niederen Kreaturenkampfes. Er schwebt in höheren Sphären, sitzt in seinem Elfenbeinturm. Er kontrolliert, manipuliert, neutralisiert, und wenn ihm doch einmal nach einer Kreatur zumute ist, dann stiehlt er sie. Der totale Snob, die fleisch- oder fischgewordene verabscheuungswürdige Oberschicht.

Man könnte fast meinen, das wäre Absicht...


Ich bitte euch. Natürlich war das Absicht! Der Zauberer, der den Belangen der einfachen Leute empathielos gegenübersteht, der sich lediglich mit höherer Magie befasst, intelligent bis vergeistigt, listenreich bis intrigant, abgehoben bis elitär. Das war von Anfang an die Jobbeschreibung für den blauen Magier. Er wurde von vornherein zum Feindbild stilisiert.

Und das... nun, das war ziemlich geschickt. Jede Farbe deckt natürlich einen gewissen Spielraum ab. Das reicht in Weiß zum Beispiel vom einfühlsamen Heiler über den ehrbaren, gerechten Ritter bis zum fanatisch obrigkeitshörigen Law-and-Order-Magier, oder in Schwarz vom amoralischen Egoisten bis zum tragischen Antihelden, der beim Pakt mit dem Teufel das Kleingedruckte übersehen hat. Das blaue Persönlichkeitsprofil fügt sich hier nahtlos ein. Nicht weil die Charaktere neu und innovativ wären, sondern gerade weil sie das nicht sind! Dass die Farben und Figuren ganz klassischen Archetypen entsprechen, ist ein Erfolgsrezept von Magic. Das Color-Wheel ist auf Anhieb verständlich und spricht eine kulturelle Erinnerung an, die so alt ist wie die Menschheit.

Weiterhin passen sowohl dieser Persönlichkeitstyp als auch die Mechaniken wunderbar zu Blau, und wunderbar zueinander. Magie entzaubern, bevor sie zum Zug kommt, aber nicht mehr später (Counterspell) oder Wissen anhäufen (Karten ziehen) – das passt einfach viel zu gut zum blauen Profil. Wie könnte man darauf verzichten, das alles in einer Farbe zu vereinen?

Dann braucht jede Geschichte einen Gegenspieler. Die Farbe Schwarz ist in Magic zwar sicherlich der „Bad Guy“, doch bestimmt nicht der Antagonist! Dafür sind Zombies und Vampire, die Schrecken der Nacht und die finsteren Rituale der Nekromantie eindeutig zu cool. Nein, Blau eignet sich wesentlich besser, um unbeliebt zu sein.

Worauf will ich damit hinaus? Vielleicht darauf, dass Wizards sich selbst einen Bärendienst erwiesen haben, als sie eine Farbe zum Ausgestoßenen machten?


Aber nicht doch! Im Gegenteil war das sogar sehr sinnvoll! Und dass sie es nun geschafft haben, das Wiedererstarken von Blau per Jace, the Mind Sculptor mit einem ungeheuren Preis zu etikettieren... dass sich Blauspieler jetzt zusätzlich zu allem anderen noch den Vorwurf gefallen lassen müssen, zu viel Geld zu haben... dass sich Spielmechaniken, Farbpsychogramm und endlich auch der finanzielle Aspekt zu einem großen Ganzen vereinen, zu einem riesigen Feindbild... das mag zwar schamlos gierig, ein Stück weit traurig und downright evil sein, aber – Chapeau! – vor allem ist es einfach genial.


Nächste Woche kein Artikel von mir! Dafür können wir uns aber beim Grand Prix in Madrid über den Weg laufen, wo ich an der offiziellen Berichterstattung arbeite.
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