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Karte oder keine Karte …?
von Thoralf Severin
12.03.2013

Wir schreiben das Jahr 2009. Hannover, genauer gesagt Grand Prix Hannover. Das ist so lange her, da gab es noch Extended. Eigentlich nicht mein bestes Format (wie so ziemlich jedes Constructedformat nach Standard mit dem Odyssey- und Onslaught-Block), aber damals gab es Elfen und die haben richtig Spaß gemacht. Meistens mehr für mich, weil man in vielen Spielen gut 75% der Spielzeit in Anspuch genommen hat, während der Gegner im F6-Modus die Punkte an der Wand zählen durfte. So ein bisschen wie das Modern-Eggs-Deck heutzutage.


Kurzer Einschub: Falls jemand das Deck nicht kennt, wie jetzt auch im Legacy baut es darauf auf, mit Glimpse of Nature für jeden Elfen eine Karte zu ziehen, währenddessen mit Heritage Druid und Nettle Sentinel Unmengen an Mana zu generieren und dem Gegner schließlich über Mirror Entity praktisch unendlich viel Schaden zu machen. Als kleinen Bonus kann man mit der Entity Wirewood Symbiote zum Elfen machen und dann diesen selbst wieder auf die Hand nehmen. Da damit Nettle Sentinel wieder enttappt wird, braucht man sich nicht mehr darauf zu verlassen, dass Manaelfen nachgezogen werden. So kann das Deck sogar ohne Glimpse of Nature gewinnen. Chord of Calling und Summoner's Pact als Supertutoren gaben dem Deck die nötige Konstanz.

Jedenfalls durfte ich bei diesem Grand Prix gegen Herrn Shuhei Nakamura spielen, der Naya-Zoo ins Rennen schickte. Nach seiner überraschenden Rule of Law hatte ich das Match schnell 0:2 verloren, aber das soll nicht der Punkt der Geschichte sein. Natürlich habe ich im zweiten Spiel angefangen, schließlich wollte ich mit den vielen 1-Mana-Elfen schneller das Board vollschmeißen, als er es mit seinen Blitzen wieder leerfegen kann. Als ich ihm einige Runden später wieder zuschaute, hat er allerdings nach einem verlorenen Spiel seinen Elfengegner anfangen lassen. Ich war schockiert. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er die Geschwindigkeit des Elfendecks handhaben kann, denn das war eigentlich der große Vorteil. Irgendwie musste ihm die Karte wichtiger sein als die Gefahr, schnell getötet zu werden. Irgendwie musste er aber erst mal auf die Idee gekommen sein, dass er vielleicht gar nicht anfangen möchte. Allein diesen Schritt zu denken, fand ich großartig.

Das führte zu folgender Überlegung. Nehmen wir einmal an, dass in unserem Match ich das erste Spiel gewonnen hätte und Shuhei mich anfangen ließe. Ich wäre geschockt, könnte aber daran nichts ändern. Dann verliere ich das zweite Spiel und habe nun die Entscheidung für das dritte. Würde ich ihn anfangen lassen? Würdet ihr ihn anfangen lassen …?

Ich hatte zu der Zeit wirklich viele Spiele mit diesem Deck absolviert und hatte einen guten Plan gegen Zoo, Feen und jegliche andere Form von Extended-Abstrusitäten. Shuheis Deck wirkte nicht besonders, er hatte die üblichen Kreaturen, Lightning Bolt, Lightning Helix und eventuell noch etwas mehr Removal. Allerdings kann ich recht einfach behaupten, dass er der leicht bessere Spieler ist und wahrscheinlich mehrere Dutzend Spiele Vorsprung in diesem Matchup hatte. Alles sprach dafür, dass er schon weiß, was er tut. Trotzdem hätte ich wohl wieder selbst angefangen. Mein Fehler, denn Shuhei hatte es erkannt. Er hatte einen Plan und der war brillant.


Aus dem Sideboard holte er anscheinend nicht nur Rule of Law, sondern noch mehr Schadensprüche. In der Tat hatte er nicht nur die beiden Blitze in seinem Deck, sondern auch Seal of Fire und Incinerate, plus Volcanic Fallout nach dem Boarden. Mit dieser Wagenladung an Brennsprüchen war es ihm locker möglich, sich die Extrakarte zu gönnen, denn ohne meine guten Synergien, waren meine Kämpfer eher Katzenfutter. Solange er für jeden meiner wichtigen Elfen Removal hatte, konnte ihm nichts passieren. In Kombination damit war Rule of Law ebenfalls sehr gut, weil es ihm die Zeit gab, später mit potenziell mehreren von meinen Elfen in einem Zug umzugehen. Ich habe in Hannover öfter gegen Zoo gespielt, viele haben Rule of Law gelegt, aber keiner hat verstanden, wie es funktioniert. Gegen diese Gegner konnte ich am Ende des Zugs, wenn sie einen Spruch gemacht hatten, Chord of Calling für Mirror Entity machen und dann im meinem Zug für vier bis sechs aktivieren, was locker ausgereicht hat.

Kommen wir zum Thema …


Karte oder keine Karte, das ist hier die Frage

Kennt ihr dieses Gefühl, wenn ihr den Würfelwurf eigentlich gar nicht gewinnen wollt? Mir geht es manchmal so, wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich anfangen will oder nicht. Am Würfelwurf kann ich eh nichts ändern und so bleibt meinem Gegner Raum für Fehler. Ist das nicht auch angenehm, sich über einen verlorenen Würfelwurf freuen zu können? In dem Sinne, gewinnt weniger Würfelwürfe, dann trefft ihr weniger schlechte Entscheidungen! Gut, wahrscheinlich gewinnt ihr auch signifikant weniger Spiele. Aber nehmen wir einmal an, dass ihr im Durchschnitt 50% der Würfelwürfe gewinnt: Wann will man eigentlich anfangen und wann will man lieber eine Karte ziehen?


Die Entscheidung ist ein Tradeoff zwischen Geschwindigkeit und Ressourcen. Anfangen gibt den Vorteil den Zug vorzuspielen und bei passender Antwort des Gegners als Erster darauf reagieren zu können. Eilekreaturen beeinflussen den Kampf stärker, Combattricks können agressiver eingesetzt werden und Countersprüche werden besser, weil sie früher angebracht werden können.

Eine Extrakarte ist eben eine extra Karte und ermöglicht eventuell andere Spielentscheidungen. Wie wir wissen (oder aus dem Mulliganartikel gelernt haben), können on the draw viel mehr Hände gehalten werden, weil eine Karte mehr ein signifikater Faktor ist. Muss man ein Land in einem Zug ziehen, ist die Hand unhaltbar, ein Land in zwei Karten ist wackelig, ein Land in drei Karten ist sehr angenehm. Außerdem werden on the draw reaktive Karten unterstützt (mehr dazu später). Das ist alles gut und schön, beantwortet aber immer noch nicht die Frage: Wann will ich lieber anfangen und wann erst ziehen?

Sehr gute Frage! Interessanterweise lässt sich die Frage ganz einfach umgestalten: Wann will ich lieber ziehen? Es gibt Spiele, bei denen anfangen ein klarer Nachteil ist, weil man lieber auf die Aktionen des Gegners reagieren möchte. Magic ist kein solches Spiel. Theoretisch gesehen ist Magic ein Tempospiel und Aktionen als Erstes auszuführen, bringt einen großen Vorteil. Ganz leicht daran zu erkennen, dass der erste Spieler keine Karte zieht. Das ist der elegante Versuch, dem Startspieler diesen großen Vorteil wegzunehmen. Meistens ist das ansatzweise fair, aber (das könnt ihr bestimmt aus eurem Erfahrungsschatz bestätigen) häufig ist es eben nicht genug, gerade wenn man sich im Contructedbereich von Magic befindet. Meist will man eben Kreaturen legen und dem Gegner ordentlich ins Gesicht zimmern, gern auch ohne Gegenwehr. Es gibt jedoch Fälle, in denen die Extrakarte mehr Einfluss auf das Spiel hat. Und diese gilt es zu erkunden.

Hier teilt sich der Artikel in zwei Teile auf: den Constructedteil und den Limitedteil.


Constructed

All ihr Constructedspieler, ihr habt großes Glück! Ich habe in einer jahrelanger Forschungsarbeit die Formel dafür aufstellen können, ob ihr anfangen wollt oder nicht:

Wenn ihr den Würfelwurf gewinnt, dann fangt ihr an!

Ganz im Ernst, die Decks werden so gebaut, dass sie immer anfangen können. Sie nutzen die beiden wichtigsten Aktionen im Magic und das sehr gern früher als der Gegner: Länder legen und Kreaturen spielen. Selbst Kontroll- oder Kombodecks freuen sich, anfangen zu dürften, denn Kontrolldecks können mit dem Land früher reagieren und Kombo kombiniert sich schneller zum gewünschten Endstatus, der hoffentlich vor dem eigenen Ableben den Gegner pulverisiert.


Es gab nur einen Zeitpunkt, an den ich mich erinnern kann, bei dem ich die Karte bevorzugt habe, und das war damals im Odyssey-Onslaught-Contructed beim Goblinmirror. Da hat man wirklich nichts anderes gemacht, als einen 1-zu-1-Abtausch nach dem nächsten und es gab nicht viele Karten, die mehr als eine Sache gemacht haben. Deswegen wollte ich immer entweder mehr Kanonenfutter haben oder mehr Brennsprüche oder zuverlässiger Siege-Gang Commander. Das waren andere Zeiten, damals war auch Shock noch gut.

Gut, da da habt wir jetzt wahrscheinlich nicht so viel gelernt. Schauen wir lieber in den wichtigen Teil …


Limited

Regelmäßigen Limitedspielern wird es nicht entgangen sein, aber im Sealed ist es oft durchaus normal, den Gegner anfangen zu lassen. Für mich ist es auch immer der Standard und ich lasse bei Prereleaseturnieren grundsätzlich meine Gegner anfangen, einfach um schnell erkennen zu können, ob sich das aktuelle Format dafür eignet. Sealeddecks neigen dazu, langsamer zu sein, da man sich eben nicht seinen eigenen Haufen nach Build-Yourself-a-Bär-Manier zusammenbasteln kann. Durch die fehlende Synergie unter den Karten, überwiegt die Stärke einzelner Karten und die gilt es zu ziehen und vor allem auch zu spielen. Während im Draft ein Splash meistens unerwünscht ist, ist man im Sealed geradezu auf der Suche nach dem guten Splashremoval oder -Spoiler. Mein Default im Draft ist anfangen, mein Default im Sealed ist, zuerst zu ziehen, und das aus folgenden Gründen:

1. Vielfarbigkeit


Je vielfarbiger ihr spielt, desto eher wollt ihr die Extrakarte. Und ich meine nicht ein bisschen Rot zu meinem Simic, ich meine die Art von Vielfarbigkeit, bei der auch die schillerndsten Paradiesvögel bleich werden. Manchmal muss man solide 3-, 4- oder sogar 5-farbig spielen und je schlechter das Fixing dafür aussieht (wobei eine gewisse Grundlage dafür vorhanden sein sollte), desto eher schreit es nach der Extrakarte. In der Vielfarbigkeit liegt die Stärke; sehr wahrscheinlich sind eure Sprüche viel besser als die eurer Gegner, aber es gilt eben auch, sie wirken zu können. Habt ihr viel Fixing in Form von Gatecreeper Vine oder Verdant Haven, dann ist anfangen natürlich umso toller, aber gerade wenn ihr nur einzelne Standardländer suchen könnt, wollt ihr möglichst viele verschiedene davon auf der Hand haben, damit ihr euch für das passende entscheiden könnt. Auch können viele Hände angenehmer gehalten werden, wenn ihr eine Extrakarte zieht. Es kommt stark auf die einzelnen Karten an. Im Alara-Block zum Beispiel habe ich praktisch nichts anderes gemacht, außer 5-farbig zu draften. Dabei habe ich gern den Gegner anfangen lassen, doch sobald ich mindestens eine Armillary Sphere im Deck hatte, wollte ich lieber anfangen.


2. Geschwindikeit


Wie gesagt erhöht sich der Einfluss der Einzelkartenstärke, je länger ein Spiel geht. Logischerweise spielen dann auch teurere Karten eine größere Rolle, weil ihre Effekte schlicht stärker sind. Im Kontrollmirror kommt es darauf an, beständig Länder zu legen und hoffentlich keinen Mulligan zu nehmen. Beides wird on the draw sehr viel wahrscheinlicher. Außerdem erhöht eine zusätzliche Karte die Chancen, die Spoiler zu ziehen, die entweder einen bleibenden Einfluss auf das Spiel hatten, selbst wenn sie entfernt werden (wie Angel of Serenity) oder schwer aus dem Spiel zu nehmen sind (wie Armada Wurm). Im aktuellen Draftformat habe ich schon häufiger den Gegner im langsameren Orzhov-Mirror anfangen lassen, wenn ich eine nette Anzahl Removal vorweisen konnte.


3. Removalanzahl


Je mehr 1-zu-1-Removal mein Deck hat, desto eher will ich den Gegner anfangen lassen. Gerade in Return to Ravnica gab es Rakdos-Decks, die bis zu zehn gute Spotremovalspells enthielten, und mit diesen Decks wollte ich immer on the draw sein, damit ich im Notfall mehr Munition an den Tag legen konnte und eine größere Chance auf die Kreaturen meines Decks hatte. Denn ohne Kreaturen hilft auch das ganze Removal nichts. Das ist natürlich sehr formatabhängig, denn in Gatecrash ist es etwa genauso wahrscheinlich, zu viel Removal zu haben, wie das Ereignis, dass Union Berlin in zwei Jahren die Champions League gewinnt.


4. Einzelne Karten

Das ist wohl der interessanteste Punkt. Meistens basiert meine Entscheidung auf einzelnen Karten, die einen bestimmten Effekt auf das Spiel haben. Üblicherweise lassen sich diese Karten in zwei Gruppen unterteilen: Karten, die einen früh zum Abwerfen veranlassen, und Karten, die erst nach einem bestimmten Ereignis gespielt werden wollen.


Die erste Kategorie habe ich vorher schon mal angeschnitten, am Beispiel von Armillary Sphere. On the draw im zweiten Zug gespielt bringt sie, wenn man das Land im dritten Zug suchen/legen will, einen zwangsläufig in die Verlegenheit, abwerfen zu müssen, und das wäre, nett gesagt, suboptimal. Genauso verhält es sich mit den Bouncelands aus dem alten Ravnica-Block, Dimir Aqueduct und Co. Falls das Deck nicht zuverlässig in der Lage ist, etwas vor diesen Karten zu spielen, verlieren sie einen Großteil ihrer Stärke und das gilt es zu vermeiden. Mit diesen Karten will ich eher spielen.

Die zweite Kategorie ist etwas anders. Hier will man auf etwas reagieren und das kann man am besten, wenn der Gegner angefangen hat. Das beste Beispiel dafür war der Scars-Block. Hier gab es gleich mehrere Karten, die es bevorzugten, wenn der Gegner anfing. Contagion Clasp und Mortarpod sind beides Karten, die ich im drittten Zug für den gegnerischen Myr spielen wollte, anstatt meinen dritten Zug dafür zu verschwenden. Der ganze Block, auch mit seinen Infectern, war voll von Toughness-1-Kreaturen. Deswegen war dieser Blisterstick Shaman auch so gut. Arc Trail und Slagstorm ließen sich ebenfalls super einsetzen, wenn der Gegner die Kreaturen vorspielte. Generell sind Zorneffekte stark, wenn der Gegner anfängt, weil sich auch einfacher eine Defensivrolle aufbauen (und vor allem verkaufen) lässt. Oder Agoraphobia (um ein aktuelles Beispiel zu finden) ist toll, wenn der Gegner mehrere Madcap Skills (oder Gift of Orzhova) gezeigt hat. Ich habe schon ein paar Mal meinen Boros-Gegner anfangen lassen, weil dieser dadurch die Gelegenheit bekam, ins Removal zu laufen. Natürlich benötigt man dafür das richtige Deck (welches in diesem Fall mindestens ein paar Backupremovalspells haben sollte), aber darauf kommt es eben an: den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, um den Gegner anfangen zu lassen.

Ich glaube, dass generell viel zu wenig Spieler darüber nachdenken, den Gegner anfangen zu lassen. Im aktuellen Gatecrash ist das wohl nicht so relevant, aber die Zeit wird kommen, vielleicht auch schon mit Dragon's Maze und dem Aufstieg der Vielfarbigkeit. Was denkt ihr darüber? Vielleicht habt ihr noch ein paar tolle Beispiele oder euch fällt noch etwas anderes ein, was euch dazu bewegt den Gegner anfangen zu lassen. Schreibt es in die Kommentare, teilt eure Erfahrungen. Seht ihr das genauso – oder komplett anders?


Zum Abschluss noch eine Frage in eigener Sache: Bisher haben wir die Videos bevorzugt zu dritt gemacht, weil es aus unserer Sicht beim Sprechen und Spielen eine gute Harmonie ergab. Ich habe jedoch gesehen, dass sich einige Zuschauer gewünscht haben, es auf zwei Personen zu reduzieren. Ich denke, dass es mindestens zwei Personen sein sollten. Ich höre mich zwar gerne reden, aber das Ergebnis der Videos soll eine laufende (hoffentlich kurze) Diskussion über die möglichen Entscheidungen sein und weniger nur meinen Weg darstellen (und foltern will ich ja auch keinen). Deswegen wäre es großartig, wenn interessierte Zuschauer hier und/oder im Kommentarbereich ihre Stimme erschallen lassen könnten.


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